Stammt der Text von dir? So lautet oder wird wahrscheinlich schon bald die Standardfrage einer neuen Ära des Schreibens lauten: der postliterarischen. Der Textgenerator – der General Pretrained Transformer (GPT) – hat sich binnen kürzester Zeit zum künstlichen literarischen Konkurrenten des Menschen entwickelt, und er befindet sich wohlgemerkt im Baby-Stadium.
Wie immer bei einflussreichen technischen Innovationen, liefert der Textgenerator Stoff für Elegien über den kulturellen Niedergang wie für Hymnen über den Aufstieg zu neuartiger menschlich-maschineller Schreibkultur.
Dabei fällt aber noch etwas anderes auf. Neue Technologien verhelfen oft älteren philosophischen Thesen jäh und unerwartet zu brennend aktueller Bedeutung – zum Beispiel jener des Philosophen und Literaturtheoretikers Roland Barthes in seinem berühmten Essay «Tod des Autors» (1968). Für Barthes ist der Autor sozusagen ein ausführendes Modul des linguistischen Apparats namens Sprache: eine Maske, die «auktoriale» Identität vorgaukelt. Deshalb wollte er den Autor durch den anonymen «Schreiber» – den «Skriptor» – ersetzt sehen: «Die Linguistik (…) verdeutlicht, dass eine Äusserung insgesamt ein leerer Vorgang ist, der reibungslos abläuft, ohne dass man ihn mit der Person des Sprechers ausfüllen müsste.»
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Die Äusserung als leerer Vorgang – man denkt dabei spontan an das Large Language Model (LLM), das dem ChatGPT zugrunde liegt. Ist ein solches Sprachmodell nicht der Inbegriff des «Schreibers»? Wir geben einen Prompt ein und der GPT gibt dies und das aus. Aber wer oder was «schreibt» eigentlich? Aus dem generierten Text spricht niemand. Gibt man zum Beispiel ein «Warum sagst du ‘Ich’ in deinen Texten?», erhält man den Output: «Wenn ich von ‘Ich’ spreche, beziehe ich mich auf die Perspektive oder den Standpunkt, den ich in einer bestimmten Antwort oder Erklärung einnehme. Ich bin nur ein computerbasiertes Programm und besitze keine eigene Meinung, Erfahrungen oder Identität. Wenn ich ‘Ich’ sage, ist das eher eine sprachliche Konvention, um die Antworten natürlicher und verständlicher zu gestalten.»
Nun mag man Barthes’ These – wie vieles von ihm – für ziemlich kapriziös halten. Sie war auch nicht neu, sondern trieb nur die Kritik an der Apotheose des «Schriftsteller-Gotts» auf die Spitze; eine Kritik, die sich seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in literarischen Tendenzen wie der Écriture automatique, im Dadaismus, später im Symbolismus artikulierte. Barthes erkannte im Schreiber eigentlich avant la lettre die Arbeitsweise des GPT. Dieser schöpft eklektisch aus einem ungeheuren geschichtslosen Reservoir von Wörtern. Man kann ihm eingeben: «Schreibe ein Gedicht über den GPT im Stil von Gottfried Benn», und er spuckt Verse aus wie: «Im Code verschlungen, tief im Datenmeer,/ Entspringt ein Geist, gewoben aus der Zeit. /GPT, ein Schöpfwerk ohne Ruhm noch Leid,/ Ein Wesen aus den Fibern, weit und schwer». Gewiss, Benn-Leser werden die Verse mühelos als gestümpertes Fake entlarven. Aber wie lange noch gibt es Benn-Leser, die das können?
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Das ist die Schlüsselfrage der postliterarischen Ära. Barthes’ Schreiber ist heute das Hybrid Autor-plus-Algorithmus. Wahrscheinlich wird uns deren «Symbiose» bald schon einen neuen Standard des Schreibens definieren, der die Benutzung des GPT nicht mehr als blosse Trickserei abqualifiziert. Deshalb gewinnt auf einmal eine andere kulturelle Kernkompetenz an Bedeutung: das Lesen.
Das hatte auch Barthes gesehen. Der «wahre Ort der Schrift» sei die Lektüre, nicht der Autor. Freilich ist sein Leser ein ebenso unpersönlicher Akteur wie der Autor: «… ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie. Er ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt.» Wiederum eine typische Überspanntheit à la Barthes, der Literatur nur als das Gespräch der Texte unter sich verstanden wissen wollte. Nun ja, wer weiss, vielleicht reden ja auch die Textgeneratoren bald schon nur noch unter sich miteinander …
Aber hypothetische Delirien beiseite: Die «Geburt des Lesers» hat im Zeitalter der Häppchenlektüre eine andere, konkrete, hochaktuelle Bedeutung. Sie lässt sich im Appell verdichten: Werde aktiver Leser! Lerne bewusst, kritisch, genau zu lesen, vor allem, wenn man so anstrengungslos Texte generieren kann! Den Ernst dieses Appells ersieht man allein schon aus den jüngsten PISA-Ergebnissen über die sinkende Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler. Textverstehen aber beruht vor allem auf der repetitiven Anstrengung des Lesens und Interpretierens – nicht zuletzt des mündlichen Lesens und Interpretierens. Die Textgeneratoren entwickeln sich weiter. Niemand zieht den Stecker. Die Parallelentwicklung des Lesens, der menschlichen Navigationsfähigkeit durch das ungeheure Labyrinth der Texte erscheint deshalb umso dringlicher. Sie ist das Handwerk, das dem «Tod des Lesers» vorbeugt.