Charles de Gaulle, Mémoires de guerre. L’Appel 1940-1942 (1954)
Charles de Gaulle, Memoiren. Der Ruf 1940-1942 (1955)
Als der General den ersten Band seiner Memoiren schrieb, lebte er mit seiner treu besorgten Gattin Yvonne zurückgezogen in Colombey-les-deux-Eglises in der Champagne. Er besass hier ein einfaches Landhaus, in einer weiten, melancholischen Landschaft mit verstreuten ärmlichen Dörfern.
Als Chef der französischen Nachkriegsregierung hatte de Gaulle versucht, dem von Krieg und Besetzung heimgesuchten Land einen Neuanfang zu ermöglichen. Aber seine Hoffnungen zerschlugen sich, und der Parteienhader, der Frankreich 1940 zur leichten Beute Hitler-Deutschlands gemacht hatte, flammte wieder auf. Bereits im Januar 1946 demissionierte der General und wählte, wie er in den Memoiren schreibt, die Einsamkeit zur Freundin. Er war 56 Jahre alt, und seine grosse Zeit als Militär und Staatsmann schien vorbei.
Der erste Band von de Gaulles Memoiren trägt den Titel „L’Appel“. Das Wort hatte in den Augen des Generals eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnete einerseits jene denkwürdige Rede vom 18. Juni 1940, als er in einer Radiosendung von London aus die Franzosen dazu aufrief, den Widerstand gegen die deutschen Invasionstruppen fortzusetzen. Zugleich aber sollte der Buchtitel darauf hinweisen, dass er selbst, Charles de Gaulle, sich aufgerufen fühlte, das Schicksal seine Landes in seine eigenen Hände zu nehmen.
Autoritäre Regierung mit Sitz in Vichy
Am 10. Mai 1940 waren deutschen Truppe in Frankreich eingefallen, hatten mit ihren beweglichen Panzerverbänden rasche Erfolge erzielt und marschierten am 14. Juni in Paris ein. Die französische Regierung zog sich nach Bordeaux zurück. Ihr Chef, Paul Reynaud, hoffte, den Kampf von den nordfranzösischen Kolonien aus fortsetzen zu können. Ein unbekannter Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, Charles de Gaulle, der zuvor als Kommandant einer Panzerdivision zwei erfolgreiche Gegenangriffe unternommen hatte, unterstützte diesen Plan. Doch es kam ganz anders.
Dem französischen Oberkommandierenden General Weigand gelang es nicht, das Steuer herumzuwerfen und die Verteidigung neu zu organisieren. Marschall Pétain aber, der bejahrte Held des Ersten Weltkrieges, den man nach Reynauds Rücktritt als Regierungschef herbeigerufen hatte, gab den Kampf verloren. Am 22. Juni unterzeichneten die Franzosen ein demütigendes Waffenstillstandabkommen. Der nördliche Teil des Landes wurde militärisch besetzt; im Süden errichtete Pétain eine autoritäre Regierung mit Sitz in Vichy, die mit Hitler-Deutschland kollaborierte.
Frankreich hatte versagt, strategisch, politisch, personell
Die erste Frage, die sich de Gaulle im ersten Band seiner Memoiren stellt, lautet: Wie in aller Welt konnte es zu diesem Debakel kommen? In dreierlei Hinsicht, stellt der General fest, hatte Frankreich versagt: strategisch, politisch und personell. Man hatte es, einer überholten stationären Verteidigungsdoktrin verhaftet, versäumt, eine „armée de choc“ mit mobilen gepanzerten Einheiten zu schaffen.
In politischer Hinsicht fehlte es an Persönlichkeiten, die, als die Katastrophenmeldungen von der Front eintrafen, das Format besassen, den Parteienstreit zu überwinden und die Führung zu übernehmen. Was aber die militärische Führung anbetraf, fehlte es an Kommandanten, die sich vom Korsett angelernter Theorien befreien und auf die Erfordernisse eines „Blitzkriegs“ einstellen konnten. Und so geschah, was nicht mehr zu vermeiden war: „Auf der abschüssigen Bahn“, schreibt de Gaulle, den wir hier nach der autorisierten deutschen Übersetzung zitieren, „auf die uns ein grenzenloser Irrtum seit langem geleitet hatte, stürzten jetzt unsere Armee, der Staat und ganz Frankreich in schwindelerregendem Tempo ins Verderben.“
Angesichts dieser aussichtslosen Situation entschied sich de Gaulle, den Kampf fortzuführen. Er flog nach England; seine Familie folgte zu Schiff nach. In London besprach er sich mit Premierminister Winston Churchill, der zum Widerstand gegen Hitler-Deutschland fest entschlossen war. Dieser sagte ihm seine Unterstützung zu. Am 18. Juni, einen Tag, nachdem Pétain um den Waffenstillstand nachgesucht hatte, hielt der General seine berühmte Radiorede an die Franzosen. Sie schloss mit den Worten: „Was auch immer geschehen mag, die Flamme des französischen Widerstandes darf nicht erlöschen und wird nicht erlöschen.“
Selbstbewusste, ungemütliche Persönlichkeit
Der erste Eindruck, der sich dem Leser des ersten Bandes dieser Memoiren aufdrängt, ist der, dass der Verfasser die hohe Kunst der geschichtlichen Erzählung beherrscht. Gewiss, die Ereignisse sind spannend genug; doch de Gaulle, der an der „Ecole militaire“ in Paris Geschichte unterrichtete, verfügt auch über die sprachlichen Mittel, diese Spannung in eine knappe und wirkungsvolle Sprache umzusetzen.
Man hat den Stil der Memoiren mit dem Latein von Julius Caesars „Gallischem Krieg“ verglichen, und wie bei Caesar sind Tatmensch und Chronist identisch. Daraus ergibt sich notwendig eine Subjektivität in der Perspektive, welche die Beleuchtung der Ereignisse bestimmt. Gleichzeitig aber erstrebt de Gaulle grösstmögliche wissenschaftliche Objektivität; er dokumentiert sich sorgfältig und ist um Faktentreue bemüht.
Seine Memoiren haben nichts zu beschönigen, nichts zu rechtfertigen, nichts zu verbergen. Denn die Geschichte hat de Gaulle ja recht gegeben: Er hat die Ehre Frankreichs wiederhergestellt, und er hat seinem Land einen Platz unter den Siegermächten gesichert.
Gewiss war der General eine selbstbewusste und ungemütliche Persönlichkeit, welche ihre Interessen mit einer Beharrlichkeit vertrat, die Churchill immer wieder ausser sich geraten liess. Auch der amerikanische Präsident Roosevelt hatte seine liebe Mühe mit dem Franzosen; von ihm stammt das böse Wort, de Gaulle sei der uneheliche Sohn von Jeanne d’Arc und Clemenceau. De Gaulle identifizierte sich so sehr mit den Interessen seines Landes, dass man nicht zu Unrecht gesagt hat, nicht er selbst sei der Held seiner Erzählung, sondern Frankreich. Wenn der General die Ereignisse, die Menschen in seinem Umkreis und sich selbst beurteilt, so geschieht dies denn auch immer im Licht der Frage, welchen Dienst sie Frankreich zu erweisen imstande sind.
"C'était à moi d'assumer la France"
War je ein Mensch, der sich entschloss, in die Geschichte einzutreten, so einsam wie de Gaulle, als er am 18. Juni 1940 seine Radiorede hielt? Er sei sich vorgekommen, schreibt er in den Memoiren, „wie ein Mensch, der am Ufer eines Ozeans steht, den es zu durchschwimmen gilt“. Und weiter: „In diesem Augenblick, dem trübsten seiner Geschichte, war mir die Aufgabe zugefallen, Frankreich zu betreuen.“ Doch das muss man im Original lesen, das sich hier ungefähr so von der deutschen Übersetzung unterscheidet wie der Klang des Clairons von dem der Blockflöte: „En ce moment, le pire de son histoire, c’était à moi d’assumer la France.“
Gewiss, es gab einige Gleichgesinnte, die de Gaulle gefolgt waren und die das Nationalkomitee der „France libre“ bildeten. Es gab auch einige tausend Offiziere und Soldaten, die sich auf abenteuerlichen Wegen nach England durchgeschlagen hatten. Doch oft begegnete man dem General mit Misstrauen und abwartender Zurückhaltung. In Frankreich war sein Name unbekannt; man hatte sich mit der Kapitulation abgefunden und eine organisierte Résistance gab es noch nicht. Vichy-Frankreich aber verurteilte de Gaulle wegen Desertion zum Tode.
Vorbild Churchill
Auf vielen Seiten des ersten Bandes seiner Memoiren berichtet de Gaulle von der mühsamen Festigung seiner Position, von der allmählichen Entstehung einer kampftüchtigen Armee, vom halb gelungenen Versuch, die Gouverneure der Kolonien hinter sich zu scharen und vom tragisch gescheiterten Versuch, die französische Flotte auf die Seite der „France libre“ zu ziehen.
Immer bleibt des Generals Bericht interessant und fesselnd, dies nicht zuletzt wegen der knappen Porträts von Gegnern und Gefolgsleuten. Berühmt ist die Charakterisierung Pétains: „Das Alter ist ein Schiffbruch. Damit uns gar nichts erspart blieb, sollte Marschall Pétains Greisenalter eins werden mit dem Schiffsbruch Frankreichs.“ Und über den englischen Premierminister schreibt er, Wortwiederholungen nicht scheuend: „Winston Churchill war für mich vom Anfang des Dramas bis zum Schluss der grosse Vorkämpfer eines grossen Werks und der grosse Schöpfer einer grossen Geschichte.“
Seinem eigenen Privatleben widmet de Gaulle nur wenige Sätze. Hin und wieder spricht er von sich selbst in der dritten Person, und man hat ihn deshalb belächelt. Aber es handelt sich hier um ein Stilmittel, um einen besonders wichtigen Zusammenhang hervorzuheben. So etwa, wenn davon die Rede ist, dass die englische Regierung den „General de Gaulle“ als Chef der „Freien Franzosen“ anerkennt. Ein wirksames Stilmittel ist auch, wenn der Verfasser die vielen Gespräche, die er führen musste, in direkter Rede wiedergibt. Dabei stützt er sich vornehmlich auf sein Gedächtnis, erreicht aber einen hohen Grad an Anschaulichkeit und Authentizität.
"Ah! mère, tels que nous sommes, nous voici pour vous servir.“
Der erste Band der Memoiren schliesst mit der meisterhaften Beschreibung der Kämpfe vom Juni 1942 um Bir Hakeim im libyschen Nordafrika. Es war zum ersten Mal, dass sich ein grosser Truppenverband des „Freien Frankreich“ auszeichnete. Die Auseinandersetzung wurde von der Weltöffentlichkeit mit Spannung verfolgt.
Es gelang den Franzosen, italienischen Streitkräften und dem Afrikakorps Rommels schwere Verluste zuzufügen und sich im Schutz der Dunkelheit vom Feind abzusetzen. Noch viele Jahre danach kann der Memorialist, wenn er von Bir Hakeim berichtet, seine Emotionen nicht verbergen. „Jetzt aber vernehme ich“, schreibt er, „Frankreichs Antwort. Aus der Tiefe des Abgrundes erhebt es sich, es schreitet aus und erklimmt die Höhe. Frankreich, unsere Mutter, nimm uns so, wie wir sind, in deinen Dienst.“ Auf französisch: „Ah! mère, tels que nous sommes, nous voici pour vous servir.“
Charles de Gaulle ist, wie man weiss, nicht nur 1940, sondern auch noch 1958 und 1968 als Retter Frankreichs aufgetreten. Es gelang ihm, den Algerienkrieg zu beenden und eine neue, innenpolitisch stabilere Republik zu begründen. Als alter Mann sah er sich mit den Studentenunruhen konfrontiert, die Frankreich an den Rand des Zusammenbruchs führten, und er meisterte auch diese Herausforderung. An seinen Memoiren schrieb er dann, wenn das Vaterland seiner nicht bedurfte. Dem monumentalen Opus der „Mémoires de guerre“ fügte er noch die unvollendet gebliebenen „Mémoires d’éspoir“ an. Er starb 1970, im Alter von achtzig Jahren, in Colombey-les-deux-églises.