In jedem Tel Aviver CD-Laden findet man bis heute Aufnahmen der Gesangsgruppen „Lahakat Ha-Nachal“ und „Beitzal Yarok“, in denen Topol mitgewirkt hat. In Israel ist Topol auch der Milchmann Tevye aus dem Hollywood-Film „Fiddler on the Roof“.
Vor allem aber ist er einfach „Topol“, ein Sohn Tel Avivs, der nie daran gedacht hat, seine Land zu verlassen um in New York Steuern zu sparen und schlechten Kaffee aus Pappbechern zu trinken. Stattdessen engagiert sich Topol für das im Norden Israels gelegene „Jordan River Village“, das er zusammen mit Paul Newman gegründet hat. Dort sollen bald unheilbar kranke jüdische und arabische Kinder Ferien machen können. Für Topol ist dieses Dorf das wichtigste Projekt seines Lebens.
Bis heute wohnt Chaim Topol in Tel Aviv. Im Zentrum der weißen Stadt. In einer Etagenwohnung. Und bis heute ist Topol mit Galia zusammen, die er 1956 geheiratet hat. Topol wurde am 9. September 1935 geboren. „Ich kam in Neve Tzedek, im Krankenhaus Freund, auf der Yehudah-Ha-Levy-Straße zur Welt“, erzählt Topol. „Ein Jahr später zogen wir in das Viertel Florentin. Das war eines der so genannten hebräischen Viertel von Yaffo.“ Seine Kindheit verbrachte Topol zwar in Armut, doch dies bedrückte ihn überhaupt nicht.
(Das Gespräch mit Chaim Topol führte Christian Buckard)
Topol: „Meine Eltern wussten natürlich, dass unsere materielle Lage nicht gut war. Aber nicht nur ich, auch die anderen Kinder hielten sich nicht für arm. Gewiss, hungrig war ich ab und zu. Aber ich dachte nicht, dass das etwas mit Armut zu tun hat. Mein Vater hatte zwar manchmal keine Arbeit, aber ich glaubte, dass das eben so sei im Leben. Bis ich 14 Jahre alt war schlief ich nie alleine im Bett. Noch heute, wenn ich alleine in einem großen Doppelbett schlafe, fühlt sich das etwas seltsam an. Aber als arm empfand ich mich wirklich nicht. Wenn es keinen Zucker gab, dann aßen wir eben ohne Zucker. Wir fanden alle möglichen Wege, um aus wenig viel zu machen. Gefilte Fisch, das ist ja eine Erfindung armer Leute.“
Das hört sich nach einer glücklichen Kindheit an.
Topol: „Es gab Momente großer Freude. Nicht, dass ich mich nach der Armut zurücksehne. Ich bevorzuge die Wohnung, in der ich jetzt wohne. Aber damals empfand ich überhaupt keine Traurigkeit wegen unserer Lebenssituation. Ich dachte, so ist es. Und es war sehr schön so. Zum Beispiel, mein Onkel, der war ein König, denn er hatte einen Karren und verkaufte Öl. Und dann setzte ich mich auf den Sitz des Karrens, bimmelte mit der Glocke und fühlte mich wie ein König. Was konnte denn besser sein, als oben auf dem Öl-Karren zu sitzen, wenn alle ankamen und in der Schlange standen um Öl zu kaufen? Und du sitzt da oben und bimmelst!“
Was für Menschen lebten damals in Florentin? Woher kamen sie?
Topol: „Florentin war ein Viertel, in dem die Hafenarbeiter das dominierende Element waren. Das waren große, starke Männer aus Griechenland, aus Thessaloniki. Aber Florentin war ein gemischtes Viertel. Viele der Bewohner kamen aus Polen, Buchara, dem Jemen und aus Russland. Es war eine sehr gemischte Gesellschaft. Und die Erinnerung, die sich sinnlich bei mir bewahrt hat, das sind diese Gerüche, wenn sich freitags alle Familien auf den Schabbat vorbereiteten, jeweils nach der Tradition ihrer jeweiligen Gemeinschaft.“
Wie haben Sie und ihre Familie gewohnt?
Topol: In unserer Zwei-Zimmer-Wohnung lebten zwei Familien. Wir waren fünf Personen, und die Familie Eisenberg war zu viert. Wir hatten eine gemeinsame Küche, ein gemeinsames Klo und ein gemeinsames Bad. Wenn wir donnerstags Fische für Schabbat kauften, kamen die Fische in die Badewanne, und am Morgen des Freitags wurden die Fische zubereitet. Und dann, danach, konnten wir baden. Donnerstag konnten wir ja nicht baden. Wegen der Fische.
Wohnten alle Ihre Spielkameraden so beengt?
Als ich 12 Jahre alt war, ging ich zur Schule mit einem Jungen namens Mandelboim, und ich erinnere mich, dass ich ihn einmal nach Hause begleitete. Ich betrat also die Wohnung und da gab es einen Salon. Ich hatte noch nie einen Salon gesehen! Von diesem Salon gingen Türen zum Bad, zur Küche und zu noch drei Zimmern ab. Also fragte ich den Freund 'Sag mal, mit wie viel Familien wohnt ihr denn hier?' 'Nur meine Familie wohnt hier.' 'Wie viele Kinder?' 'Drei Kinder', kam die Antwort.
Ich hatte den Eindruck: Bei denen stimmt doch etwas nicht! Ich dachte, vielleicht reden sie nicht miteinander, weil sie sauer aufeinander sind. Ich verstand einfach nicht, wozu eine einzige Familie drei Zimmer braucht! Das ging einfach nicht in meinen Kopf! Ich hab das nicht verstanden, denn bei uns zogen wir jeden Abend das Sofa mit dem Eisengestell aus, darunter war dann noch ein Bettgestell und der Esstisch wurde zur Seite geschoben. Und so hatten wir sogar noch Platz für Gäste. Dann schoben wir einfach noch eine Kiste aus dem Zimmer und dann hatten wir zusätzlichen Platz für zwei, drei Leute! Jedenfalls, ich hatte eine glückliche Kindheit. Voller Wärme. Aber natürlich gab es manchmal auch Kummer.“
An welche traurigen Momente Ihrer Kindheit erinnern Sie sich?
Topol: „Ich weiß noch, wie mein Vater weinte, als die ersten Flüchtlinge aus Europa kamen. Fast alle seine Familienangehörigen waren ermordet worden. Auch die meiner Mutter. Mein Vater und sie waren die Einzigen in ihren Familien gewesen die - so um 1932 - ins Land gekommen waren. Zuhause hatte man sie deswegen als völlig verrückt angesehen. Aus der Familie meines Vaters hat nur die Tochter seiner Schwester überlebt. Und sie erzählte meinen Eltern was geschehen war. Die Eltern meines Vaters hatten mit seinen Geschwistern in der Nähe von Warschau gewohnt, in einem Ort namens Wolomin. Es war 1942, am Tag des Simchat Thorah-Festes, als die Deutschen kamen und alle Juden des Ortes zusammen trieben und nach Treblinka deportierten. Dort wurden sie sofort ermordet.“
Wo waren Sie als der Staat ausgerufen wurde und der Krieg nach Tel Aviv kam?
Das war der Abend des 14. Mai 1948, ein Freitag. Ich stand neben dem Museum auf dem Rothschild Boulevard, wo Ben Gurion den Staat Israel an diesem Abend den Staat ausrufen wollte. Er kam mit dem Wagen, stieg aus, grüßte und lief die Stufen hinauf. Die ganze Zeremonie dauerte so vierzig Minuten. Wir standen draußen und verfolgten die Unabhängigkeitserklärung über Lautsprecher. Alle Erwachsenen heulten. Und dann kam Ben Gurion wieder heraus und ich rannte nach Hause und erzählte, was geschehen war. Auch bei uns am Tisch weinten sie alle. Und dann stand mein Vater auf, nahm sein Mauser-Gewehr und bezog seinen Posten. Wir anderen blieben zu Hause. Und schon am nächsten Tag griffen die Bomber die Stadt an.
Wie alt waren Sie, als Sie begannen zu arbeiten?
„Vierzehn. Ich war Drucker im Verlagshaus der sozialistischen Arbeiterzeitung Dawar auf der Sheinkin-Straße. Ich fühlte mich dort, als stünde ich auf dem Berg Sinai und würde jeden Tag die Tora schreiben. Ich liebte die Arbeit des Druckers sehr, den Geruch der Maschinen und all das. Manchmal fuhren mein Vater und ich mit dem Bus zusammen zur Arbeit. Er pflegte Ecke Sheinkin und Allenby auszusteigen, wo der sogenannte „Sklavenmarkt“ für die Tagelöhner auf dem Bau war. Mein Vater stellte sich dort hin und wartete auf Jobs, während ich zur „Dawar“ ging. Er beneidete mich um meinen festen Arbeitsplatz.“
Das Stammcafé der Dawar-Redakteure war das Café Tamar, das ja heute noch existiert. Gingen Sie auch dorthin?
Topol: „Nein, ich saß nicht in Cafés herum. Das war mir zu bürgerlich. Ich war doch Sozialist! Sogar ins Café Kassit, ins Café der Künstler, ging ich damals nicht. Das tat ich erst Jahre später.“
Wann sind Sie das erste Mal aus Israel heraus, ins Ausland gekommen?
„Bis ich 29 Jahre alt war, wollte ich gar nicht ins Ausland reisen. 1964 fuhr ich dann doch, zur Biennale nach Venedig, wo ich mit dem Stadttheater Haifa in Brechts 'Kaukasischem Kreidekreis' auftrat. Zum allerersten Mal war ich also im Ausland und zum ersten Mal sah ich Ornamente an Hausfassaden. Schön war’s ja, aber was für eine Verschwendung! Das war doch sicher furchtbar teuer gewesen! Und dann das Wasser! Und all das Grün! Einfach so Geld auszugeben, um einen Baum zu bewässern, der keine Früchte trägt?! Das waren Dinge, die ich gar nicht begriff. Wir in Israel lebten damals ja von der Hand in den Mund. So waren wir aufgewachsen. Wenn ich heute nach Tel Aviv komme und all die Bäume sehe, bin ich so stolz! Yalla, wie wunderschön! Ich bin stolz, dass Tel Aviv heute eine grüne Stadt ist!“