«Und wenn sich auch dieses Terrain nicht als sicher erweist?» fragt der Filmer. «Dann suchen wir weiter», antwortet der Atomphysiker. Er sucht seit 35 Jahren. «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» nennt Hagen seinen neuen Film (CH 2013).
So gross die Problematik der Atomkraftwerke ist, grösser ist die des Atommülls. Die Produktion von Nuklearenergie ist unlösbar verschränkt mit derjenigen hochradioaktiver Abfälle, von denen niemand weiss, wohin. «Zwischenlager» nennt man das. 350'000 Tonnen haben sich mittlerweile weltweit angesammelt. «Jedes Haus braucht eine Toilette», sagt jemand. Wir lassen also weitersuchen, während – alles nach den Presseunterlagen zu dem Film – rund 10'000 Tonnen nuklearer Ausscheidungen jährlich dazukommen. Fast wie eine Ablenkung wirkt auf diesem Hintergrund das Reden über die Sicherheit von AKWs.
Edgar Hagen ist nicht empört. Er ist rund um die Welt zu den Orten gereist, wo hochradioaktiver Müll gelagert werden sollte oder gelagert wird und führt sachlich, undramatisch, überzeugend und sehr informativ in die Problematik ein. Er filmt, was zu filmen ihm zugänglich ist, er trifft zahlreiche wichtige Experten, kritische, besorgte und sorglose, er macht uns mit den verschiedensten Stimmen und Überlegungen bekannt. Selber auf der Seite derer, die keine Atomenergie wollen, findet er als seinen wichtigsten Gesprächspartner den Atomphysiker Charles McCombie, der «bis ans Ende der Welt geht um eine Lösung zu finden» – und der auch noch keine gefunden hat. Hagen porträtiert ihn als glaubwürdigen, prominenten, freundlichen Vertreter der Atomgemeinschaft.
Sellafield, Nagra und der Yucca Mountain
Hagens «Reise» führt historisch und geographisch durch die im Grunde unerträgliche Problematik der Entsorgung von Atommüll. Er zeigt, wie Queen Elizabeth II. im Jahr 1956 in festlicher Stimmung das Atomkraftwerk Calder Hall in Sellafield einweihte – als Anfang eines neuen Zeitalters. Wegen nuklearer Abfälle machte man sich damals wenig Sorgen. Man «verklappte» sie ins Meer oder vergrub sie – etwa auf dem Land der Yakamas in den USA, das nun verseucht ist, oder, das sei nebenbei bemerkt, im ehemaligen niedersächsischen Salzbergwerk in der Asse, das nun seit einigen Jahren leckt.
Bis 1976 konnte die Schweiz in Sellafield entsorgen. 1977 brach dort Widerstand der Bevölkerung aus – seither kommt der hochradioaktive Abfall wieder an seine Ursprungsorte zurück. In Deutschland sollte es Gorleben sein. In der Schweiz erteilte die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) Charles McCombie den Auftrag, ein Endlagerprogramm zu entwickeln, das «Projekt Gewähr».
Gewähr konnte nicht gegeben werden, darauf wurde die Bevölkerung auch hierzulande aufmerksam. Hagen bringt zu all diesem eindrückliches Bildmaterial bei. Zurückhaltend aber deutlich redet er mit Beteiligten, lenkt das Auge auf rissiges und bröckelndes Gestein, auf die Ölfelder, die im Gebiet eines Endlagerprojekts liegen und auf den noch jungen Vulkan im Gebiet des Yucca Mountain-Projekts in Nevada, der 1987 als Endlagerstandort für die hochradioaktiven Abfälle der USA designiert worden ist – «a mind-numbing mistake» kommentiert einer.
2010 hat Präsident Obama das Yucca-Mountain-Projekt gestoppt, was offiziell nicht mit der Unsicherheit der Sache begründet wurde, sondern mit dem «Widerstand der Bevölkerung» – von der Unsicherheit der Experten wird so wenig geredet wie von der Expertise der Skeptiker. Charles McCombie wurde als internationaler Experte vor die US-Kommission geladen, die berät, was nun mit Amerikas Müll geschehen soll – am 13. August 2013 hat ein Gericht entschieden, das Bewilligungsverfahren um das Endlager in Yucca Mountain müsse wieder aufgenommen werden.
Pangea und der Bözberg
Man lernt viel in diesem Film. Etwa wie 1998 Charles McCombie und Partner in Westaustralien geheim das erste internationale Endlagerprojekt «Pangea» planten, mitfinanziert von der Schweiz. Die Päne wurden ruchbar – «Gorleben ist überall» – und die Australier boten ihre Experten zur Hilfe an, aber den Müll wiesen sie zurück.
Im letzten Jahrzehnt kamen neue Ideen auf: die Endlagerung in Tonschichten – in Benken, Kanton Zürich, unter besiedeltem Gebiet vergraben, oder im Bözberg im Aargau, aber die Eingänge könnten versteckt bleiben, heisst es, im Bezug auf Gestaltungsfragen sei man flexibel.
Herstellung von Akzeptanz
Die andere Erkenntnis ist: Die Atomindustrie hat mit Problemen zu tun, die sie «psychologisch» nennt. Man habe in der Bevölkerung noch mehr Überzeugungs- und Beruhigungsarbeit zu leisten als bisher, man müsse ihre Ängste verstehen. In Herstellung von Akzeptanz gilt die Schweiz international als führend. Es müsse ferner die freiwillige Mitarbeit gefördert und den Leuten, die sich zur Verfügung stellten, auch etwas zurückgegeben werden, zum Beispiel Geld.
Das kann wohl nicht als Bestechung bezeichnet werden, überlegt sich die Zuschauerin, weil die Bevölkerung ja kein Amtsträger ist und wenn Amtsträger involviert sind, handeln sie doch auch nur im Interesse der Bevölkerung. So ein Endlagerbau wie in Carlsbad, Neu Mexiko, bringt Geld und Arbeitsplätze, Strassen, Gemeinschaftszentren, Sportplätze. Die Zusammenarbeit mit den Experten für die Lagerung von Atommüll sei eine Erfolgsgeschichte, sagt der hierfür verantwortliche ehemalige Carlsbader Bürgermeister, es gebe gute Saläre, Geld, er könne seine Buben jetzt Fussball spielen sehen, und bald auch seine Grosskinder, hier werde der «American Dream» gelebt.
Ein Glücksfall für einen Dokumentarfilmer, jemanden zu finden, der im Klartext wiedergibt, wie es in seinen Kreisen tönt, weil er es für selbstverständlich hält, dass seine Weltsicht von der übrigen Welt geteilt wird. So kann man oft von Kindern hören, was man in ihrer Familie wirklich denkt. Charles McCombie redet ungleich reflektierter. Auch er ist Teil der «nuclear society», aber, bemerkt Edgar Hagen, «er lebt seit Jahrzehnten in dieser Konfliktzone» und führt eine sorgfältige Sprache. Die Scham der Erfolglosigkeit seiner jahrzehntelangen Suche bedeckt er mit dem Vorweis seiner Offenheit und eines ungebrochenem Optimismus.
Hie und da freilich klingt durch das politisch korrekte Reden der Atom-Lobby die Bereitschaft durch, sich notfalls mit allen Mitteln gegen den Rest der Gesellschaft durchzusetzen. Wäre Ihre Arbeit leichter, wenn es keine Demokratie gäbe? fragt der Filmer Charles McCombie.
Tiefe Schichten kollektiver Verdrängung
Der 1961 geborene Edward Hagen ist Schweizer und hat in Basel und Berlin Philosophie und Germanistik studiert, als Journalist und Theaterdramaturg gearbeitet und ist seit 1989 unabhängiger Dokumentarfilmemacher und Autor. Als Lehrer doziert er über filmisches und dokumentarisches Erzählen. Vor einigen Jahren konnte man von ihm «Someone Beside You» (CH, 2007) sehen, einen Film zu existentiellen Grenzsituationen, Verrücktheit und Spiritualität – auf den ersten Blick etwas ganz anderes als die «Suche nach dem sichersten Ort». Aber beide Arbeiten handeln von Reisen, Reisen auch zu den Rändern des Bewusstseins.
«Es ist eine Reise durch tiefe Schichten kollektiver Verdrängung», sagt Hagen zu seinem neuen Film. Die Verdrängung kann als illusionäre Entsorgung eines Sachverhalts angeschaut werden, die eingesetzt wird, wenn dieser zu viel Angst macht. Der Filmer bringt sie als eine besondere Unsichtbarkeit ins Bild: «Die Verdrängung des Problems wird dadurch begünstigt, dass das radioaktive Material (…) weggesperrt werden muss: in tabuisierte, dem öffentlichen Auge entzogene Gelände, in die nur unter schwierigsten Auflagen Einblick gewährt wird. Eigene Bilder von dem Material zu gewinnen, das uns bedroht, war eines der schwierigsten Unterfangen dieser Reise.» Hagens Film reisst das Verdrängte nicht auf, aber er weist darauf hin. Der Erkenntnisgewinn ist beträchtlich.