Die Grünen wollen ihre Präsidentin in den Bundesrat hieven. Da kein Rücktritt in Aussicht steht, möchte Regula Rytz den Sitz von Ignazio Cassis erobern. Der Präsident der CVP, Gerhard Pfister, unterstützt die Forderung im Prinzip, doch sagte er, es sei nicht opportun ein amtierendes Regierungsmitglied nach Hause zu schicken. Immerhin wollte er Regula Rytz zu einem Hearing einladen. Die Mehrheit der CVP-Fraktion war jedoch dagegen.
„Der Undiplomat“
Die Präsidentin der Grünen wird zwar kaum gewählt werden. Doch selbst wenn das Unwahrscheinliche geschähe, würde die Bundesversammlung am 10. Dezember jedenfalls nicht deshalb Nein zu Cassis sagen, weil er ein Tessiner ist. Er ist ja vor gut zwei Jahren genau deswegen gewählt worden, nachdem die italienische Schweiz während fast zwei Jahrzehnten keinen Vertreter mehr in der Regierung hatte.
Cassis hat jedoch viele enttäuscht, auch Bürgerliche. Er hat die schweizerische Aussenpolitik rasch und stark verändert. Diese ist traditionellerweise auf internationale Zusammenarbeit und einer Politik der guten Dienste im Hinblick auf friedliche Lösung von Konflikten ausgerichtet. In der Weise war sie von Cassis’ Vorgängern geprägt, zuletzt von Didier Burkhalter.
Cassis hat wiederholt gehandelt, ohne sich mit Regierungskollegen abzusprechen, hat manchmal voreilig und unüberlegt Stellung bezogen, so dass die Wirtschaftszeitschrift „Bilanz“ ihm den Titel „der Undiplomat“ gab. Gleichzeitig wird ihm Opportunismus vorgeworfen: Kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat ist er der Waffenlobby „Pro Tell“ beigetreten, von der er sich wenig später wieder verabschiedete.
Es gibt mehrere Beispiele, die den markanten Kurswechsel in der Aussenpolitik veranschaulichen. In Länder, die in Konflikte verstrickt sind, durften keine Waffen geliefert werden, auch dank der entscheidenden Stimme von Didier Burkhalter. Mit Cassis hat die Mehrheit im Bundesrat gewechselt – und das Ausfuhrverbot für Waffen nach Saudiarabien ist gefallen. Das hat in breiten Kreisen Entrüstung ausgelöst. Der Bundesrat ist danach zurückgekrebst. Gleichwohl sind in kurzer Zeit die Unterschriften für eine Volksinitiative gesammelt worden, welche künftige Lockerungen der Kriegsmaterialausfuhr verhindern will.
Nur Lob für Israel
Anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung des Staates Israel versammelte sich die Gesellschaft Schweiz–Israel in Anwesenheit des israelischen Botschafters in der Schweiz im Mai 2018 in Lugano. Dort war Cassis voll des Lobes für diesen Staat. Es fehlte jede Distanz; doch gerade die wäre geboten für den Aussenminister eines Landes mit einer langen Tradition der guten Dienste – auch im Hinblick auf eine allfällige vermittelnde Rolle. Cassis sagte zwar, das Nahostproblem müsse lösbar sein, doch er erwähnte die Palästinenser und deren Probleme mit keinem Wort.
Der Migrationspakt der Uno, welcher die Migration sicherer machen und besser regeln will und den der Schweizer Uno-Botschafter massgeblich mitgestaltet hat, war dem Aussenminster nicht genehm. Doch nach einer Prüfung durch die Verwaltung hat die Regierung im Einverständnis mit Cassis beschlossen, den Migrationspakt im Dezember 2018 in Marrakesch zu unterschreiben. Vor dem Parlament verteidigte der Tessiner Bundesrat das Uno-Dokument, doch dann verzichtete er kurzfristig darauf, nach Marokko zu reisen.
Clencore-Propagandist
Nach dem Besuch einer Mine in Zambia, die zum Glencore-Konzern gehört, äusserte sich Cassis lobend über die dortigen Verbesserungen, ohne mit Vertretern der Bevölkerung zu sprechen, die unter Beeinträchtigungen der Gesundheit wie der Umwelt leiden. Den schönfärberischenTweet des Aussenministers hat Glencore zu Propagandazwecken verwendet.
Im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen hat Cassis am Radio zu einem Zeitpunkt von Flexibilität gesprochen, als für den Bundesrat mit Bezug auf die Massnahmen zum Schutz des Arbeitsmarktes die roten Linien galten; für die Gewerkschaften war dies unannehmbar. Der Konflikt ist noch nicht beigelegt.
Überdies will der Tessiner die Entwicklungszusammenarbeit stärker auf die Interessen der schweizerischen Wirtschaft und der Bremsung der Migration ausrichten. Offenbar hat Cassis den Passus zur Aussenpolitik in unserer Bundesverfassung (Art. 54.2) nicht gelesen, wo es heisst: „Der Bund (…) trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.“
Mangelnde Erfahrung
Zudem hat Cassis jenen Nestlé-Direktor, der sich unter anderem für die Privatisierung von Wasser einsetzte, zum Vizedirektor des Amts für Entwicklungszusammenarbeit ernannt. Dort ist Christian Furtiger jetzt für die Bereiche Klimawandel, Gesundheit und Wasser zuständig, was in manchen Kreisen auf Unverständnis stiess. Der Tessiner, dem es an Erfahrung in der Aussenpolitik mangelt, hat zudem eine persönliche Mitarbeiterin eingestelllt, die ebenfalls mit der Diplomatie unvertraut ist.
Kritisiert wird der Aussenminister nicht, wie er selber meint, aufgrund seiner Tessiner Herkunft. Es sind vielmehr seine Entscheide und die Art und Weise das Departement zu führen, welche die grossen Vorbehalte auslösen. Hätten die Tessiner Liberalen vor gut zwei Jahren nicht eine Zweierkandidatur strikte ausgeschlossen, wäre die Situation heute ganz anders. Die frühere freisinnige Tessiner Staatsrätin und Nationalrätin Laura Sadis hätte nämlich gute Aussichten gehabt, gewählt zu werden. Trotz des gewaltigen Wahlerfolgs der Grünen würde heute niemand die Abwahl einer Laura Sadis erwägen.