Ein spanischer Film des bekannten Regisseurs Albert Serra ist am Samstagabend mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet worden „Historia de la meve mort“. Ich kann mich nicht über diesen Film äussern, weil ich zu den vielen Betrachtern gehörte, die ihn zur Halbzeit, also nach etwa einer Stunde und 15 Minuten, fluchtartig verlassen hatten.
Casanova traf Dracula an einem osteuropäischen Schauplatz, aber die beiden mythischen Figuren übten sich in kunstvollen Dialogen, nicht in nacherlebbarer Handlung. Dennoch: Lange vor der Jury äusserten sich einige wenige Cinéphile begeistert. Beim Publikum sank der Film wie ein Stein.
Blocher war zufrieden
Ganz anders der Film „L‘experience Blocher“ des grossen welschschweizer Dokumentalisten Jean-Stéphane Bron, den ich wie zahlreiche Landsleute in Locarno gespannt erwartet hatte. Man wusste, wie kreativ und immer wieder anders sich Bron seinen Stoffen näherte: In einem parlamentstechnischen Tagebuch mit „Mais im Bundeshuus“, in einer fingierten Gerichtsverhandlung mit Reportageelementen über die amerikanische Subprime-Katastrophe in „Cleveland vs. Wallstreet“. Wie würde der Film über Blocher ankommen – und bei wem?
Der Film lief vor über 6000 Zuschauern auf der Piazza, nicht im Wettbewerb. Der Applaus war knapp und verhalten. Aber auch Buhs blieben aus. Offensichtlich wussten viele nicht recht, was sie von diesem Film halten sollten. Christoph Blocher und ein Teil des SV-Politbüros waren da, „in Schale“, mit Krawatte, im Vorbeigehen Hände schüttelnd. Wie man hörte, zeigten sie sich zufrieden.
Unpolitischer Gestus
Die Debatte begann sofort, noch am selben Abend, am Rand der Piazza, wo sich manche noch ein Bier genehmigten. Und sie ebbte an den folgenden Tagen nicht ab. Ich glaubte – wie schon beim Preisgewinner des internationalen Wettbewerbs – eine seltsame Spaltung wahrzunehmen.
Etliche Filmfreunde, auch politikaffine Rechtsprofessoren mit filmischer Jury- und Gremienerfahrung, schwärmten von der ungewohnten psychologischen oder gar tiefenpsychologischen Annäherung an den Mann, der mit unschweizerischer Direktrhetorik das austarierte schweizerische Politsystem aufgerissen hatte - Verdoppelung des Wähleranteils auf fast 30 Prozent innert 12 Jahren
Niemand mochte sich dem Urteil der SP-Nationalrätin und früheren POCH-Militanten Susanne Leutenegger Oberholzer anschliessen, die den Bundesamt für Kultur das Recht absprach, den Film zur Hälfte zu finanzieren. Sie wusste schlicht nicht, von welchen institutionellen Abläufen sie sprach. Aber fast alle Journalisten, die ich interpellierte und las, stiessen sich am seltsam unpolitischen Gestus des Dokumentaristen Bron.
Warum wurde nicht gefragt?
Wohl war es berührend, in der Luxuskarosse der Blochers über die Autobahnen zu brausen und mitzuschmunzeln, während die ehemalige Lehrerin das Französisch Ihres Ehemanns verbesserte. Vom populären Bildungsrepertoire der Blochers zeugte, dass sie auf Schloss Rhäzüns Opernarien mitschmettern mochten. Die Niedergeschlagenheit Blochers nach dem mssglückten Angriff auf die feindliche Ständeratsmehrheit 2011 liess von ferne ein Auslaufen seiner Politkarriere ahnen (zu früh, scheint mir).
Aber der fleissig aus dem Off parlierende Regisseur Bron, der erklärtermassen keine „Entlarvung“ Blochers beabsichtigte (deshalb traf der entsprechende Vorwurf des „Tages-Anzeigers“ daneben), hätte doch ein halbes Dutzend politische Zusatzfragen stellen dürfen. Blocher, Säule einer Pro-Apartheid-Lobby der Schweizer Wirtschaft: Wie begründet der Demokratie-Apostel Blocher das im Nachhinein? Blocher, der zum breitformatig grossen Marignano-Bild des Ferdinand Hodler aufblickt und ehrfuchtsvoll den Hut zieht – das war damals doch eine schmerzliche Niederlage des schweizer Alleingangs; muss denn heute immer noch beschworen werden, dass die Schweiz eine abgeschottete Insel mitten in Europa ist? Und so weiter.
Hätte Bron die tiefenpsychologische Annäherung mit ansatzweiser politischen Nachfragen ergänzt, mit Tiefenbohrung im ideologischen Fundament des ungewöhnlichen, ja in der Schweizer Geschichte einmaligen Volkstribunen Blocher - ungeteilte Anerkennung wäre ihm sicher gewesen.