Wer die Bilder sah, hatte nicht den Eindruck, dass sie sich viel, ja überhaupt etwas zu sagen haben: Mauro Moretti, seit 2006 erfolgreicher CEO der Ferrovie dello Stato (FS) mit einem in Rekordzeit realisierten Hochgeschwindigkeitsnetz von Turin bis Salerno, und Andreas Meyer, nach Jahren bei der DB an der Seite Hartmut Mehdorns deutsch geprägter CEO der SBB, dessen Vision immer nur "Sitzplätze" lautet. Nach einer Periode praktisch inexistenter Zusammenarbeit haben die beiden in Zürich einen Vertrag unterzeichnet.
Strafen für Freunde
Bereits anderntags wurden die Reisenden des vorzeitig gewendeten Eurocity aus Mailand in Arth-Goldau wieder in einen unbegleiteten Regionalzug mit einem halben Wagen erster Klasse gepfercht, üblicherweise ohne jede Information oder gar Entschuldigung vor dem erneuten Umsteigen in Zug und ohne Teilrückerstattung des überrissenen "Marktpreises", wenn die Verspätung "nur" etwa eine halbe Stunde beträgt.
Die Erklärung für die Absenz selbst gespielter Herzlichkeit bei der Begegnung der zwei Bahnchefs liefern nachträgliche Erläuterungen von Schweizer Seite. Danach sollen die vereinbarten Qualitätsstandards gemessen und deren Nichterreichung bestraft werden. Was der stolze Gast aus einem stolzen Land von Bussen für Freunde hält, ob er die gegenüber Nachbarn beleidigende Idee ernst nimmt und wie er darauf reagiert, hat sich offenbar niemand überlegt.
Mauro Moretti und Andreas Meyer sind in Ascona und Bellinzona schon im August 2011 zusammengetroffen. Ein bedeutungsschwer "Accordo dei castelli" genanntes Abkommen enthielt, die Strafen ausgenommen, mindestens so viel, wie sich die beiden Seiten jetzt in Zürich erneut versprochen haben. Gehalten wurde nichts. Der Bahnverkehr Zürich–Mailand funktioniert noch schlechter als zuvor. Primär wäre die Qualität der Beziehungen zwischen Italien und der Schweiz, Römer Amtsstellen und dem Bundesamt für Verkehr, Trenitalia und den SBB zu verbessern.
Cisalpino for ever?
Ab Juni 2014 (statt ab dem regulären Datum im Dezember), so haben Moretti und Meyer vereinbart, werde der Fahrplan Zürich–Mailand "stabilisiert" – nicht, indem man sich stärker bemüht (die veröffentlichten Reisezeiten wären fahrbar), sondern durch eine Fahrzeitverlängerung um 20 Minuten auf 4 Stunden. Der legendäre TEE der sechziger Jahre benötigte, ohne komplizierte und teure Neigeeinrichtungen und ohne die seitherigen Infrastrukturausbauten, 3 Stunden 47, und er fuhr pünktlich.
Die landesweit verschrieenen Ex-Cisalpino-Züge (ETR 470) sollen nicht, wie 2011 in Aussicht gestellt, bis Ende 2014 verschwinden, sondern ab 2015 nur "vor allem" durch neue ETR 610 abgelöst werden. Wer den Pannenfahrzeugen zur Mailänder Weltausstellung 2015 sicher entgehen will, sollte sich um eine Flugreservation kümmern. Dass Trenitalia ihre baugleichen ETR 610 wieder in die Schweiz einsetzt, hat Meyer seinem Kollegen nicht überzeugend abringen können.
Von der Zuteilung eines langen Gleises in Mailand Centrale ist keine Rede, obwohl die neuen Züge von 9 auf 7 Wagen verkürzt worden sind, damit sie bei Bedarf in Doppeltraktion einfahren können. Die getrennte Führung kostet im Gotthard-Basistunnel rare Trassen zulasten des Güterverkehrs (mit den ICN des nationalen Verkehrs lassen sich die ETR 610 nicht vereinigen).
Geschwindigkeit versus Kapazität
Obgleich der überfällige Entscheid der SBB zur Beschaffung von 29 Zügen für den internationalen Verkehr ansteht, bleibt im Communiqué auch dieses gewichtige Thema unerwähnt. Wohin streben die SBB? Fahrten nach Florenz–Rom, Genua, Venedig oder nur Mailand, und was meint Trenitalia dazu? Die Neubaustrecken erfordern Geschwindigkeiten von 300 oder eher 350 km/h (die TGV für den Verkehr in die Schweiz mussten vorzeitig ausrangiert werden, weil sie mit ihren 270 statt 300 km/h auf der stark belasteten Strecke Paris–Sud-Est den Betrieb behinderten).
Bei einer Hochgeschwindigkeits-Variante würde sich Moretti über Interesse für eine Drei- oder Vierstrom-Version seines in Erprobung stehenden Superzugs Frecciarossa 1000 freuen. Bis Mailand genügen als Höchstgeschwindigkeit 160 km/h (200 km/h in Verspätungsfällen bei schwachem Verkehr). Die propagandistisch verheissenen 250 km/h im 57 km langen Gotthard-Basistunnel ohne Überholmöglichkeit würden die Kapazität für den in der Regel nur 100 km/h erreichenden Güterverkehr drastisch reduzieren.
Fehlende Vierspur
Anscheinend als zu heisse Eisen erachteten die Bahnchefs längst dringende Fragen der Infrastruktur. Die Schweizer Lokomotivführer beklagen den maroden Zustand der Simplon-Südrampe. Von einer durchgreifenden Sanierung hört man gleichwohl nichts.
In der Schweiz verbreitete Illusionen, dass der Gotthard-Basistunnel alle Probleme löse, könnten einer peinlichen Ernüchterung weichen. Vom BAV und den SBB nicht oder unwillig zur Kenntnis genommen, hat Mauro Moretti im Schweizer Fernsehen vor längerer Zeit erklärt, dass er in Mailand keinen zusätzlichen Güterverkehr wünsche und deshalb die Lötschberg–Simplon-Route empfehle. Somit plant Trenitalia auf den 29 km von Albate-Camerlata nach Monza keine Vierspur, obwohl die Zahl der S-Bahn-Züge auf diesem Abschnitt stark erhöht worden ist. Dennoch beantragt das Schweizer BAV fast eine Milliarde Franken für das 4-m-Profil unter anderem dieser Strecke. Zusammenarbeit auf solcher Basis kann nicht funktionieren.