Sie kommt aus der Provinz. Sie ist provinziell, also beschränkt, unberechenbar, ziellos und am Ende gefährlich. Sagen die einen. Nein, im Gegenteil. Sie ist authentisch, echt und originell, deshalb ist sie zukunftsweisend, meinen die anderen. Der Streit der klugen Köpfe über das Wesen der sozialen Bewegung dauert ebenso unvermindert an wie die Kämpfe auf den Strassen der Provinz. Was ist im Gottesstaat los, wer kämpft gegen wen und wohin kann die Reise gehen?
Ein Erdbeben
Fest steht, dass das politische Erdbeben, das derzeit Iran erschüttert in jeder Hinsicht beispiellos ist. Es ist ein tektonisches Kräftemessen, das die Islamische Republik nun in ihrem vierzigsten Lebensjahr überstehen muss. Manche vermuten, dass dies nur ein Vorspiel dessen ist, was kommen wird: Der Machkampf um Khameneis Erbe.
Dieses Vorspiel werden die jetzigen Machthaber einstweilen gewinnen, und sie können es. Denn sie besitzen das militärische Potential ebenso wie die dazu notwendige Brutalität. Wie alles letztlich ausgeht, wissen wir nicht. Präsident Rohani fürchtet, es werde nur Verlierer geben, wenn man nicht behutsam vorgehe. Es wird jedenfalls ein Davor und Danach geben, wie nach jedem Erdbeben eben.
Die Provinz und die Hardliner
In der Tat nahm die Protestbewegung ihren Anfang in der Provinz, in der Stadt Maschhad im Nordwesten des Landes, fast tausend Kilometer von der Hauptstadt Teheran entfernt. Es war am vergangenen Donnerstag und am Anfang stand ein Aufruf der Hardliner in den sozialen Netzwerken. Vor dem Rathaus wollten sie gegen Rohanis Wirtschaftspolitik demonstrieren, vor allem gegen die Erhöhung der Benzinpreise, gegen die Kürzung der sozialen Unterstützung und gegen die gestiegen Preise für Eier und Geflügel usw. Es war eine Protestbewegung mit dem Segen des mächtigsten Mannes der Provinz. Zunächst.
Ayatollah Alam Al Hoda ist sein Name, Freitagsprediger der heiligen Stadt und zugleich Vertreter des Revolutionsführers Ayatollah Ali Khamenei für die ganze Provinz Khorassan. Manche nennen den 73-jährigen Ayatollah nicht nur den König der Provinz, sondern den Königsmacher für das ganze Land. Sein Schwiegersohn Ibrahim Raisi war vor fünf Monaten Rohanis Rivale bei der letzten Präsidentschaftswahl. Diese Niederlage haben weder der Schwiegervater noch der Schwiegersohn verdaut – noch die anderen Hardliner im ganzen Land mit dem Revolutionsführer in Teheran an der Spitze.
Geduldete und gewollte Proteste
Seit Wochen finden im ganzen Land kleine und grosse Protestkundgebungen verschiedener Gruppen statt. Mal sind es die Arbeiter, die seit Monaten keinen Lohn bekommen haben, mal Rentner, deren Rentenkassen leer sind, oder auch arme bzw. reiche Sparer, die von hunderten Scheinbanken um ihre Ersparnisse gebracht worden sind.
Zwei besondere Merkmale kennzeichnen all dieser Proteste: Sie richteten sich gegen Rohanis Regierung, sie wurden geduldet und sie fanden ein grosses Echo in den Zeitungen und Websites, vor allem in jenen der Hardliner.
Rohani, Symbol der Enttäuschung und Ernüchterung
Doch es sind nicht nur Hardliner, die an Rohanis Stuhl sägen. Auch für Rohanis Anhänger sind die ersten fünf Monaten seiner Wiederwahl eine reine Enttäuschung und Ernüchterung. Nichts hat er verwirklichen können, was er seinen Wählern versprochen hatte.
In Rohanis Kabinett sitzt weder eine Frau, noch ein Sunnit. Seine Ministerliste haben ihm die Hardliner, die eigentlichen Machthaber diktiert. In den sozialen Netzwerken wendet man sich enttäuscht und angewidert von ihm ab. „Ich bereue“ lautete ein wochenlanger hashtag im Internet mit unzähligen Followern. Die urbane Mittelklasse und die arbeitslosen Akademiker sind zwar enttäuscht und angewidert, doch man zieht das Schweigen vor.
Aufstand der „Entrechteten“
Verärgert über Rohanis Ministerrunde sind aber auch die Armen in den entfernten Regionen des Landes. Nach offiziellen Angaben leben zehn Millionen Iraner unter der Armutsgrenze. Und dies in einem potentiell sehr reichen Land. Hinzu kommt eine Klimakatastrophe, deren Folgen überall unübersehbar sind. Wassermangel und Dürre in vielen Dörfern und Kleinstädten gehören ebenso zum Alltag, wie eine beispiellose Luftverschmutzung, unter denen Millionen Menschen leiden. Rohanis Regierung scheint unfähig, diese Miseren zu lindern.
Als vor fünf Wochen ein starkes Erdbeben die Provinz Kurdistan heimsuchte, herrschte reines Chaos, und der Staat war in den ersten Tagen praktisch abwesend. Rohanis Rezepte sind wirkungslos, angesichts der Berge von Problemen, die er angehen sollte. Seine Regierung ist in den Augen seiner Wähler ebenso unfähig wie in den Augen seiner Gegner.
„Nieder mit Khamenei“
Diese allumfassende Unzufriedenheit schien für die Hardliner ein unschätzbares Kapital. Mit ihm liesse sich Rohanis Regierung zu Fall bringen. Nach wochenlangen kleineren Kundgebungen in verschiedenen Städten, wollte man am vergangenen Donnerstag aus Maschhad, der Stadt von Rohanis Rivalen, ein möglichst starkes Signal senden. Ursprünglich sollten einige hundert Menschen sich vor dem Rathaus versammeln. Sie sollten offen, unmissverständlich und lautstark gegen Rohani protestieren, so der Aufruf. Doch diesmal hatten sich die Hardliner verkalkuliert.
Es wurde zu einem Bumerang, zur einer Staatskrise. Es kamen an diesem Tag plötzlich nicht einige hundert, sondern mehrere tausend Demonstranten, und sie waren in der Tat unzufrieden. Nicht nur über Rohani allein, sondern über die Islamische Republik als Ganzes. In Windeseile gingen über die sozialen Netzwerke Parolen gegen den Revolutionsführer Ali Khamenei rund um die Welt. Die Menge skandierte „Lass Syrien los, denke an uns“, „Nieder mit dem Diktator“ oder „Nieder mit Khamenei“.
Nur der Anfang
Eine Stunde nach dem Ende dieser Demonstration trat Isaak Jahangiri, Rohanis Vize, vor die Presse und warnte die Rivalen in Maschhad: „Ihr mögt zu Demonstrationen aufrufen, aber ihr werdet nicht diejenigen sein, die sie am Ende auch kontrollieren können.“
Der Vizepräsident sollte Recht behalten. Maschhad war nur der Anfang und ein Signal für das übrige Land. Seitdem gehen täglich in dutzenden Städten in allen Provinzen Hunderte, Tausende auf die Strasse und skandieren Parolen gegen den ganzen Gottesstaat. Es sind die „Entrechteten“, die einstige Massenbasis der islamischen Revolution.
Die Garden bleiben einstweilen in Kasernen
Zunehmend werden diese Kundgebungen blutig. Bis Montagabend sollen nach offiziellen Angaben ein dutzend Menschen getötet und mehrere hundert verhaftet worden sein. Das ist nur der Anfang. Die Revolutionsgarden harren noch in ihren Kasernen, sagte ein Sprecher der Garden am Montagabend. Man habe hier und da zwar die Basidjis, die Paramilitärs, aktivieren müssen, aber die Zeit für ein Eingreifen der Garden sei nicht gekommen, fügte er hinzu.
Die Tage der Revolutionsgarden werden kommen, falls die Unruhen systemgefährdende Dimensionen annehmen sollten. Und die Garden werden keine Brutalität scheuen, wie sie auch keine bei der sogenannten Grünen Revolution vor acht Jahren gescheut haben.
Die Saat ging auf, das Resultat gefällt nicht
Die momentane Zurückhaltung der Garden hat auch einen anderen Grund: Sie waren anfänglich, wie alle Hardliner, mit Demonstrationen in abgestecktem Rahmen einverstanden, wenn sie sich nur gegen Rohani richteten. Ihre Presseorgane berichteten in den letzten Wochen täglich über die wirtschaftliche Misere des Volkes und zeigten Verständnis für die kleinen und grossen Kundgebungen der Rentner, der Arbeitslosen und der betrogenen Sparer. Die Saat ging auf, aber das Ergebnis gefällt ihnen nicht. Denn plötzlich wollen die Armen alles umkrempeln, Revolutionsgarden inklusive.
Gefährlicher könnten die Zeiten, in der dies alles geschieht, nicht sein. Das Ausland, vor allem die amerikanische Administration, schaut genau hin, was derzeit im Iran passiert.
Trump mischt sich ein
„Das erste, was Präsident Trump heute nach dem Aufwachen getan hat, war ein Tweet über die Unruhen im Iran abzusetzen“, berichtete ein Reporter vom persischen Dienst der BBC am Sonntagabend. Fast alle US-Politiker aus der ersten Reihe äussern sich jetzt fast stündlich zum Iran. „Der Präsident und ich werden die beschämenden Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, als die anderen dastanden und den heroischen Widerstand des iranischen Volkes gegen das brutale Regime ignorierten“, twitterte der amerikanische Vizepräsident am Dienstag zu Beginn des ersten Arbeitstages im neuen Jahr.
Rohani fürchtet daher mehr den Druck, der aus dem Ausland kommt, als jener aus der iranischen Provinz, denn das Gelingen seiner Innenpolitik hängt von einer Normalisierung mit der Aussenwelt ab. Doch seine Aussenpolitik, vor allem jene in den Nachbarstaaten, bestimmen seine Rivalen. Die eigentlichen Machthaber sind die Revolutionsführer und Revolutionsgarden, sowie die mit ihnen verbündeten mafiösen Gruppen.
Und genau diese Aktivitäten der Garden im Irak, in Syrien, Jemen und Libanon sind nicht nur für Rohani, sondern für das ganze System existenzgefährdend. Eine faktische, aber mächtige Koalition, bestehend aus Saudi-Arabien, Israel und Amerika setzt alles daran, den iranischen Einfluss aus allen diesen Ländern zurückzudrängen.
Kein Internetzugang mehr
Saudi-Arabien führe ein Stellvertreter-Krieg im Internet gegen den Iran, sagte am Dienstag Ali Schamkhani, Sprecher des nationalen Sicherheitsrates in Teheran. Rohani mahnt in seinen Ansprachen, man dürfe nicht für alles das Ausland verantwortlich machen. Einstweilen ist der Internetzugang für Iraner seit dem letzten Sonntag massiv eingeschränkt oder fast unmöglich. Präsident Trump reagierte umgehend:
@realDonaldTrump
„Iran, the Number One State of Sponsored Terror with numerous violations of Human Rights occurring on an hourly basis, has now closed down the Internet so that peaceful demonstrators cannot communicate. Not good!“
Mit freundlicher Genehmigung IranJournal