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Sprach-Akrobatik

„Bürgerlich“ – ein ausrangierter Begriff

3. Juni 2016
Reinhard Meier
Reinhard Meier
Ursprünglich diente die Bezeichnung „bürgerlich“ der Abgrenzung gegenüber Aristokratie und Feudalismus. Inzwischen ist der Begriff zur beliebig verwendbaren Worthülse verkommen.

Dem Leserbriefschreiber kann man nur beipflichten, der in der NZZ forderte,  der Ausdruck „bürgerlich“ sollte „aus dem politischen Vokabular gestrichen werden“. Es sei längst kein zeitgemässer und zukunftsfähiger Begriff mehr.  Ausserdem, so ist hinzuzufügen, ist er inzwischen weitgehend inhaltsleer geworden und wird – ähnlich wie das ebenso abgewrackte Label „sozialistisch“ – für höchst widersprüchliche Bedeutungen missbraucht.

Auch Linke sind „bürgerlich“ im Sinne von Citoyen

Das war nicht immer so. Historisch gesehen dienten die Begriffe „bürgerlich“ und „Bürgertum“  der selbstbewussten Abgrenzung der Citoyens gegenüber der Aristokratie und dem Feudalismus mit ihren Erbprivilegien. Später wurde das Etikett „bürgerlich“ hauptsächlich zur Unterscheidung gegenüber politisch linken Strömungen eingesetzt. Bemerkenswerterweise bediente sich auch die Linke dieser spezifischen Abgrenzung – und zwar durchaus im offensiven Sinne. Aus dem braven Bürger wurde  aus dieser Perspektive der oft im Sinne eines Schimpfwortes gebrauchte „Bourgeois“. 

Sprachlich einleuchtend ist die Verwendung des Begriffs „bürgerlich“ zur Unterscheidung von politisch links und rechts ohnehin nicht. Denn natürlich sind auch die Vertreter der Linken Staatsbürger im Sinne von Citoyens und somit „bürgerlich“.

Bürgerliche Kanzlerin mit „sozialdemokratischer“ Politik?

Inzwischen aber sind die begrifflichen Unterscheidungen zwischen „bürgerlich“ und „sozialistisch“ oder „sozialdemokratisch“ vollends verschwommen.  Wo liegt da noch der Erkenntnisgewinn, wenn etwa der deutschen Kanzlerin Merkel, die sich und ihre Partei gewiss als gutbürgerlich versteht, vorgeworfen wird, sie betreibe eine zunehmend „sozialdemokratisierte“ Politik? Und wenn andererseits sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien in Europa aus den eigenen Reihen oder seitens ihrer Konkurrenten um die Ohren geschlagen wird, sie seien völlig „verbürgerlicht“. 

Und wo sind da die hierzulande oft beschworenen „bürgerlichen Gemeinsamkeiten“, wenn eine Partei wie die SVP  andere bürgerliche Politiker mit nicht genehmen Meinungen als „die Linken und die Netten“ verhöhnt?  Oder was soll „bürgerlich“ am Verhalten von Lautsprechern der gleichen Partei sein, die  - wie Roger Köppel oder Christoph Mörgeli –  mit ihren Unterschriften Flugblätter beglaubigen, in denen eindeutig lügnerische Behauptungen über angebliche Enteignungen verbreitet werden?  Nachzulesen auf dem Flyer eines „Komitees zum Schutz der Bürgerrechte vor Behördenwillkür“ gegen die Asylgesetz-Revision, über die am 5. Juni abgestimmt wird.

Der oben erwähnte NZZ-Leserbriefschreiber hat recht. Im politischen Bereich ist  das Prädikat „bürgerlich“ untauglich geworden. Begriffe wie „liberal“, und „nationalkonservativ“  liefern da schon etwas präzisere Inhalte – auch wenn dabei für sprachliche Unschärfen und Etikettenschwindel noch breiter Raum offenbleibt.

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