Eigentlich gibt es in Kairo kein Messegelände mehr. Das Areal, auf dem die arabische Welt sonst ihre meist international nicht vollkommen konkurrenzfähigen Industrieprodukte zeigt und auf dem einmal zu Beginn jedes Jahres die grösste Bücherschau der Region stattfindet, gleicht einer Ruinenlandschaft. Unter dem alten Regime wurden die meisten Ausstellungshallen abgerissen. Denn man wollte dem Gebiet ein neues, modernes Gesicht geben. Dann aber rebellierten die Menschen, die Bauarbeiten wurden eingestellt, und im Revolutionswinter 2011 fiel die Buchmesse vollkommen aus.
Wer jetzt über das Messegelände geht, fühlt sich manchmal, wie ein Journalist der Wochenzeitung Al-Ahram Weekly befand, eher wie in einem Flüchtlingslager als auf einer wohl organisierten Ausstellung. Die Pavillons sind durch Zelte oder provisorische Hallen ersetzt, Toiletten finden sich irgendwo fast ausser Reichweite in Containern. Einen detaillierten Lageplan der einzelnen Stände gibt es nicht. Und dennoch schlendern – zwar weitaus weniger als früher – Menschen durch das Provisorium und versuchen, sich irgendwie zu orientieren.
Mehr Interesse an Politik
Früher war es üblich, dass der - inzwischen ins Gefängnis geschickte - Präsident Hosni Mubarak kam und, wider seine eigene Überzeugung, das Schaffen der Intellektuellen würdigte. Diesmal liess sich von der Staatsspitze niemand sehen – der regierende Militärrat hat kein Gespür für die Bedeutung dieses Ereignisses und schickte keinen seiner Generäle. Vielleicht hätte dann die Junta, wie manche Ägypter die Führung ihres sonst so geliebten Militärs schon nennt, vielleicht hätte ein General dann die von seinen Landsleuten entfachte Revolution loben müssen. Doch dieses Lob hätte ihm nach dem nun schon ein Jahr dauernden Versagen der Generäle niemand abgenommen.
Natürlich geht die Ausstellung nach dem Sturz Mubaraks an der Revolution nicht vorbei. Zahlreiche ägyptische Bücher beschäftigen sich mit dem Thema. Und die Besucher nehmen das Angebot gerne an. „Wir verkaufen“, sagt ein Vertreter des grossen, alteingesessenen Kairoer Verlages Nehdet Misr (was bezeichnenderweise so viel bedeutet wie „Ägyptisches Erwachen“), „wir verkaufen jetzt mehr politische und wissenschaftliche Bücher als Schriften mit islamischen Inhalt.“ Viele Besucher interessieren sich wieder mehr für politische Themen.
Wohin geht die Revolution?
Tatsächlich hatten sich viele unter dem alten Regime in die Lektüre religiöser Schriften geflüchtet, dieser intellektuelle Eskapismus war ein Mittel des inneren Überlebens. Jetzt aber sei, glaubt man manchen Stimmen, das Pendel des Interesses ein wenig wenigstens in eine andere Richtung ausgeschlagen. Man interessiert sich für Wissenschaft, für Politik, für Kultur – und natürlich für die Revolution. Der Verlag Nehdet Misr veröffentlicht gleich vier Bücher über die Revolution, eines mit dem sicher populären Titel Midan Tahrir, „Platz der Freiheit“. Andere Verlage widmen sich den Muslimbrüdern. Der Drang, nachzulesen, was die Muslimbrüder eigentlich sind, erscheint gross – nach der Jahrzehnte dauernden Unterdrückung der Brüder durch das alte Regime. Auch Alaa Aswani, der Autor des auch in Deutschland bekannten Buches „The Yakoubian House“, meldet sich zu Wort – wie stets kritisch. Er fragt, ob die Revolution ihre richtige Richtung erst noch finden müsse.
Diese Frage wird heute fast überall in Kairo gestellt – besonders nach dem Massaker im Fussballstadion von Port Said, bei dem letzte Woche 72 Menschen zu Tode kamen. Mit gutem Grund lasten fast alle Menschen die Tragödie einer Intrige der alten Mubarakkräfte an. So führt heute fast jedes Gespräch in Kairo sofort zur aktuellen politischen Lage. Unverbindliche Konversationen mit den üblichen Fragen nach der Gesundheit der Familie und den Unbilden des Wetters, die früher die Kommunikation zwischen den Menschen beherrschten, fallen fast völlig aus. Die Politik ist in die Gesellschaft zurückgekehrt.
Der hohe Anteil der Analphabeten
Erstmals seit Jahrzehnten wagen viele Menschen, offen über gesellschaftliche Probleme zu sprechen. Unter den Autokraten Gamal Abdel Nasser (der übrigens die Buchmesse gründen liess, um Kairo zu einer Stadt der Bücher zu machen und seine Untertanen zum Lesen zu bringen), Anwar al-Sadat und Hosni Mubarak war eigenständiges politisches Denken, geschweige denn politisches Handeln oft lebensgefährlich. Kein Wunder, dass sich jetzt manch ein Verlag von Schriften über die Revolution ein gutes Geschäft verspricht.
Allerdings darf man die Erwartungen in eine solche intellektuelle Renaissance nicht zu hoch ansetzen. Immer noch sind, so lauten die Schätzungen, etwa dreissig bis vierzig Prozent der über achtzig Millionen Ägypter Analphabeten. Das alte Regime hat seine Untertanen bewusst in kultureller Finsternis gehalten. Eine Wende zum Besseren wird – wenn die Junta diese denn anstrebt – Jahrzehnte dauern. Dennoch wird die Buchmesse der Revolution stets ihren Tribut zollen müssen – schon deshalb, weil sie fast immer im Januar stattfindet, den Jahrestagen des Volksaufstandes gegen Hosni Mubarak.
Gespür der Freiheit
Daher bekommen die Worte von Kulturminister Shaker Abdel Hamid eine vielleicht ungewollte Bedeutung. Er sagte, die Messe sei „ein besonderer Erfolg“ und „angesichts der gegenwärtigen Umstände“ für „ihn persönlich und für alle Menschen eine besondere Herausforderung“. Das kann man allerdings auch anders sehen. Der Jahrestag am 25. Januar überschattete das Ereignis – viele kulturelle Programme, die sonst die Messe zieren, fielen den Kundgebungen zum Opfer, die den „Tag des Stolzes und der Würde“, wie die Ägypter den Beginn des Aufstandes nennen, feierten. Zudem blieb die Messe angesichts des Jubiläums zwei Tage geschlossen. Dennoch sagte einer der Verleger, die Bedeutung der Buchmesse liege darin, dass sie in gewisser Weise die Geschichte der Revolution erzähle. Ein anderer sprach „vom Gespür der Freiheit“ und von der Notwendigkeit, die Geschichte der Revolution „unseren Menschen zu erzählen“.
Da war es nur natürlich, dass die Organisatoren diesmal Tunesien die Ehre gewährten, spezieller Gast der Messe zu sein. Schliesslich begann die arabische Rebellion in dem kleinen Maghrebland und nicht im grossen, sich selbst als arabische Führungsmacht betrachtenden Ägypten. Die Eröffnungszeremonie endete denn auch mit einem Konzert der tunesischen Sängerin Amal al-Hamrouni, die Texte des ägyptischen Autors Ahmed Fouad Negem vortrug. Autor und Sängerin beklagten das Los der Armen in der arabischen Welt und kritisierten die wohlhabenden, regierenden Klassen. Ein neuer Ton im Lande, der – zumindest in der Öffentlichkeit – so vorher kaum zu hören gewesen ist.
Das Buch in der Nicht-Lese-Gesellschaft
Auch der Stand des Informationsministerium, das manche ausländische Journalisten vor der Revolution ironisch „Wahrheitsministerium“ genannt hatten, kam diesmal der Wahrheit etwas näher: Es zeigte die Rede Mubaraks, mit der er im Februar 2011 seinen Rücktritt erklärt hatte.
Andererseits war der Zuspruch des Publikums geringer als bei der letzten, auch kommerziell wohl erfolgreichen Schau des Jahres 2010. Die Hallen waren kaum gefüllt mit Bücherfreunden. Nach den tragischen Ereignissen auf dem Fussballfeld von Port Said waren viele Menschen verschreckt und wagten sich nicht auf die Strassen. Nachdem das Kultusministerium sogar angekündigt hatte, die Messe wegen der 72 Toten von Port Said vorzeitig schliessen zu wollen (was dann nicht geschah), kamen noch weniger Besucher. Ein Vertreter der Organisatoren – der dem Kulturministerium angegliederten „Allgemeinen Ägyptischen Buchvereinigung“ - klagte gegenüber Al-Ahram Weekly, ein kommerzieller Erfolg sei 2012 nicht zu erwarten. Gleichzeitig versprach er, Verluste der Verlage ausgleichen zu helfen.
Die Verbreitung des Buches in der Nicht-Lese-Gesellschaft der arabischen Welt, die jahrhundertelang von der mündlichen Überlieferung ihrer kulturellen Tradition gelebt hat, bleibt also mühselig. Die Revolution hat den Menschen zwar geistige Freiheit gebracht; doch das Land ist wirtschaftlich angeschlagen, viele Menschen können sich den Kauf eines Buches kaum leisten. Die Verlage warten nun auf die kommenden Buchmessen – jene in Abu Dhabi Ende März und jene im Emirat Sharjah (einem Teil der „Vereinigten Arabischen Emirate“) im November.