Die Armut im Land wächst dramatisch, die Wirtschaftsaussichten sind trübe, das Gesundheitssystem steckt in einer tiefen Krise. Man sieht: Das Vereinigte Königreich hätte Wichtigeres zu tun als sich mit einem narzisstischen Prinzen zu befassen.
Am 10. Januar wollte Grossbritannien endlich in den Kreis der Länder aufrücken, die in der Lage sind, Satelliten ins All zu schiessen. Das Unternehmen «Virgin Orbit» des britischen Milliardärs Richard Branson wollte mit «Cosmic Girl», einem zur fliegenden Startrampe umgebauten Jumbojet, eine Rakete auf zehntausend Meter Höhe bringen. Von dort sollte sie neun Satelliten in den Orbit transportieren. Es klappte nicht.
Das Scheitern dieses gross angekündigten Prestigeprojekts hätte es wahrhaftig nicht auch noch gebraucht. Trübnis herrscht schon eine ganze Weile im Königreich. Und die Sorgen, die man sich im Lande machen muss, sind von ganz anderer Tragweite als der (zweifellos schwerwiegende) Rückschlag in der britischen Raumfahrt.
Die Probleme des Inselreichs gehen längst an die Substanz der Gesellschaft: Eine hartnäckige Teuerung von deutlich über zehn Prozent sowie die tiefste und längste Rezession aller OECD-Staaten stürzen die unteren Schichten in Armut und rauben dem Mittelstand die Stabilität.
Der NHS, das lange als Vorzeigemodell und Stolz der Nation bezeichnete Gesundheitssystem, macht tagtäglich traurige Schlagzeilen. Geschichten von Menschen, die mehr als 24 Stunden auf Rettung warten, Bilder von dramatisch überfüllten Notaufnahmen, Berichte von Ärztinnen und Pflegern über ihre Achtzehnstunden-Schichten. Da wundert es nicht, wenn das medizinische Personal streikt.
Die Regierung schiebt die Probleme auf die Nachwirkungen der Corona-Pandemie und die gegenwärtige Grippewelle. Doch die Misere ist viel älter. Zehn Jahre konservative Sparpolitik haben überfällige Modernisierungen und den notwendigen Ausbau des NHS verunmöglicht. Sechsstellige Zahlen von unbesetzten Stellen gibt es im britischen Gesundheitswesen nicht erst seit Corona. Entsprechend leidet die Qualität der Versorgung schon lange: skandalöse Wartezeiten für Routineeingriffe, notorisch überbelegte Spitäler und unterdotierte Rettungsdienste sind Symptome einer verfehlten Politik.
Doch nicht nur wer verunfallt oder krank wird, hat wenig Freude an den britischen Zuständen. Eine wachsende Zahl von Menschen sieht den Brexit als Ursache der stagnierenden Wirtschaft. Nur noch zwanzig Prozent finden den Austritt aus der EU gut. Zwei Drittel derer, die 2016 für den Brexit gestimmt haben, bereuen ihren Entscheid. «The Telegraph», seinerzeit Sprachrohr der Brexiteers, hat festgestellt, die düsteren Prognosen der Gegner hätten sich nicht nur bewahrheitet, sondern seien übertroffen worden: «Wir werden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte mit schrumpfendem Wohlstand und Ansehen dafür bezahlen.»
Premier Rishi Sunak allerdings bleibt trotzig auf seiner Linie: «Ich glaube an den Brexit.» Auch Oppositionsführer Keir Starmer rührt nicht an das heisse Eisen. Einstweilen gilt für alle grossen Parteien das Dogma, der Volksentscheid dürfe nicht thematisiert, geschweige denn problematisiert werden. Doch diese politische Realitätsverweigerung verliert augenscheinlich an Zustimmung. Ein Grossteil der Bevölkerung traut der Politik insgesamt nicht mehr zu, dass sie die Einsicht und Entschlusskraft zur Bewältigung des allgemeinen Schlamassels aufbringen könnte.
Derzeit macht es allerdings fast den Anschein, als sei das Rumoren im Königshaus viel wichtiger als die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen im Land. Dass ein profilneurotischer und narzisstischer Prinz mit einer unappetitlichen Familienfehde sich ins Rampenlicht drängt, mag da und dort vielleicht für eine momentane Ablenkung von den wirklichen Problemen sorgen. Aber kaum bei denen, die unter der britischen Misere zu leiden haben.