Der Club Helvétique hat sich heute in einem Brief an den Bundesrat gewendet mit dem dringenden Anliegen, am Rahmenabkommen festzuhalten, das Verhältnis zur EU nicht weiter zu belasten.
Monsieur le Président de la Confédération,
Sehr geehrte Mitglieder des Bundesrats
Der Club Helvétique stellt fest, dass die gegenwärtige Debatte über das Verhältnis der Schweiz zum eigenen Kontinent unter negativen Vorzeichen geführt wird. Im Mittelpunkt steht das Rahmenabkommen Schweiz-EU (InstA). Seine Gegner verteufeln es, mit irreführenden Argumenten und unter Einsatz erheblicher Mittel. Auch wegen der langen Passivität der Regierung, eines Grossteils der eidgenössischen Räte und gewichtiger Interessenvertreter haben die Kritiker des InstA eine — in der Sache ungerechtfertigte — Stimmung geschürt; sie suggerieren, das InstA sei «gestorben».
Die erwähnte negative Stimmung bereitet uns Sorge. Wir gestatten uns in diesem offenen
Brief, die Bedeutung der Europäischen Union und die Notwendigkeit der Pflege guter Beziehungen zu unterstreichen. Wo keinerlei «Plan B» besteht, ist eine breite Diskussion über das Rahmenabkommen unerlässlich. Die Schweiz im Herzen von Europa kann nur in enger Partnerschaft mit ihrem Umfeld gedeihen — das ist ein Grundanliegen des Club Helvétique. Erstmals in ihrer Geschichte hat die Eidgenossenschaft, seit 1945, lauter friedliche Anrainer.
Die Europäische Union ist ein geschichtsträchtiges, zukunftsweisendes Friedenswerk. Ohne sie würden wir Europäerinnen und Europäer nicht die längste Friedensperiode überhaupt auf unserem Kontinent erleben. Ohne sie wäre die Gefahr ungleich grösser, dass es lokal und regional wieder zu bewaffneten Konflikten am Rande und innerhalb von Europa käme. Die Entwicklung im früheren Jugoslawien zeigt, wie schnell es unter Nichtmitgliedern der EU zum
Krieg kommen kann — und wie dank der Aussicht auf einen EU-Beitritt und den entsprechenden wirtschaftlichen Vorteilen die Folgen der Kriege gemildert werden. Der Nationalismus in Mittel- und Osteuropa lässt sich nur dank der vorhandenen oder anstehenden EU-Mitgliedschaft im Zaum halten. Längst wäre er sonst in Aggression und blutige Kriegshandlungen ausgeartet.
Die EU ist überdies ein Vehikel des Fortschritts in der Gesellschaft. Ohne «Brüssel» gäbe es keinen faktisch weltweit geltenden Datenschutz und wäre es noch schwieriger, die teils unverbesserliche Finanzbranche zu einer nachhaltigen Geschäftspolitik zu bewegen. Der Green New Deal der EU und der Europäische Emissionshandel sind in Europa die zwei wichtigsten Instrumente im Kampf gegen die Klima- und Umweltkrise. Auch im Schlüsseldossier der immer gefährlicher werdenden Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Ländern ist ein Umdenken in der EU zu beobachten. Der gemeinsam finanzierte und vom Europäischen Parlament gutgeheissene Wiederaufbaufonds ist ein Ausdruck davon. Angesichts der anhaltenden Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/8 und der Coronakrise sind massgebliche Kräfte in der EU zum Schluss gekommen, dass die gemeinschaftliche wie die innerstaatliche Sozialpolitik tendenziell verstärkt werden muss und Sozialabbau anachronistisch geworden ist.
Eine geeinte Union mit einem gewichtigen Binnenmarkt ist das einzige Mittel für Europa, um gegenüber den Grossmächten gemeinsame europäische Interessen kraftvoll zu vertreten. Dort, wo im «21. und asiatischen Jahrhundert» für die ganze Welt zentrale Entscheide vorgespurt und getroffen werden, muss Europa mit einer Stimme sprechen. «Deutschland allein ist zu klein», bringt es Angela Merkel auf den Punkt.
Das InstA enthält den heute einzig vorhandenen Schlüssel zum europäischen Binnenmarkt, in den fünf Bereichen Personenverkehr, Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft und technische Handelshemmnisse. Das Abkommen sichert den ungehinderten Zugang der Schweizer Exporteure zum europäischen Markt. Ohne Gewähr eines hindernisfreien Zugangs wird die für unser Land ausschlaggebende Exportwirtschaft schwer benachteiligt. Ebenso zentral ist die europäische Integration der Schweiz in Sachen Bildung und Forschung, Digitalisierung, Umwelt und Klima, Kultur und Filmbranche. Lauter Bereiche, in denen die Schweiz im Alleingang kaum Entscheidendes bewegen kann.
Unsere engsten Partnerländer und Nachbarn sehen im InstA die einzig realistische Brücke zu einer Schweiz, die an dem bilateralen Weg festhalten will und sich der vollen Teilhabe an der Europäischen Union verweigert. Die EU betrachtet den Brückenschlag als ein
Entgegenkommen. Es wäre inakzeptabel, die konstruktive Haltung der EU mit feindseligen und irrationalen Vorwürfen zu kontern oder ihr mit einem Achselzucken unter Verweis auf den helvetischen Zeitgeist zu begegnen. Für die schweizerische Jugend, die sich in Europa frei bewegen und ausbilden möchte, wäre dies keine zukunftsweisende Option. Für schweizerische Bildungs- und Forschungsstätten bedeutete es den allmählichen Abstieg in die 2. Liga. Viele Schweizerinnen und Schweizer mit kulturellen, familiären und freundschaftlichen Banden über die Grenzen hinweg würden sich nicht ernst genommen fühlen. Eine Schweiz, die Mauern statt Brücken baut und die Schuld immerzu bei den anderen sucht, würde am Ende verlieren, was sie so krampfhaft zu schützen versucht: ihre Entscheidungsfreiheit, ihren Wohlstand.
Die schwierige Zeit der Pandemie ruft uns allen in Erinnerung, wie wichtig für ein kleines Land die internationale Zusammenarbeit ist. Wir wollen darauf vertrauen können, dass Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Mitglieder des Bundesrats, die massgeschneiderte Beziehung zu unseren Nachbarn und wichtigsten Handelspartnern nicht leichtfertig aufs Spiel setzen werden.
Für den Club Helvétique
Elisabeth Joris
Urs W. Studer
Ko-Leiterin
Ko-Leiter
Christine Beerli, Magdalena Küng und Daniel Woker haben diesen Brief verfasst.
Mitunterzeichnet:
Gülcan Akkaya, Henry Both, Cécile Bühlmann, Marco Curti, Sylvia Egli von Matt, Hildegard Fässler, Hans-Peter Fricker, Dieter Imboden, Chasper Pult, René Rhinow, Walter Schmid, Casper Seig, Roger de Weck, Caspar Selg