Seit dem Abflug des verwundeten Staatschefs Ali Saleh Abdullah nach Saudiarabien am 4. Juni dieses Jahres sind die Fronten in Sanaa unverrückt geblieben.
In der zweitgrössten Stadt des Landes, in Taez, lieferten sich Armee und Polizei einerseits und Demonstranten anderseits blutige Kämpfe. Unterstützt wurden die Demonstranten von Stämmen, die ihre Anliegen befürworten.
Weiter im Süden stiessen Armee-Einheiten, die zum Staatschef halten, mit Kräften zusammen, die eine Abspaltung des Südens oder zumindest eine Autonomie der Südprovinzen – zusammen mit Aden – befürworten. In diesen Konflikt griffen auch Islamisten-Gruppen ein, die sich der kleineren Städte im Hinterland von Aden, wie Zinjibars, zu bemächtigen suchten. Nach Anfangserfolgen stiessen diese Islamisten-Gruppen aber mit der Armee zusammen, die eine Gegenoffensive lancierte. All dies führte dazu, dass Zehntausende Zivilisten nach Aden geflohen sind.
Die Houtis – mit Iran verbündet?
Aus dem äussersten Norden Jemens gibt es kaum Nachrichten. Man weiss nur, dass dort die schiitischen Stämme der Houtis vom Machtvakuum profitieren wollen. Die Houtis sind mit dem Regime in Sanaa bitter verfeindet. Saudiarabien versucht zu verhindern, dass die Houtis im Norden des Landes die Macht ergreifen. Die Saudis glauben, die Houtis seien mit Iran verbündet.
Drei Hauptgruppen halten Teile von Sanaa besetzt
In Sanaa ziehen die Fronten sich mitten durch die Stadt. Teile der jemenitischen Hauptstadt befinden sich im Besitz der Protestgruppen, die ihr Zentrum auf dem Platz vor der Universität, westlich von der berühmten Altstadt, aufgeschlagen haben. Sie sind unbewaffnet, werden jedoch von Teilen der Streitkräfte unterstützt, die sich schon im März gegen den Staatschef erhoben haben. Die wichtigsten dieser Truppen sind jene der 1. Panzerdivision unter General Ali Mohsin Saleh.
Auf der andern Seite stehen die Elite- und Sicherheitstruppen der Regierung. Sie stehen unter dem Kommando von Ahmed, einem Sohn des Staatschefs, sowie zweier seiner Neffen. Sie dominieren den Süden der Stadt, die Region rund um den Präsidentenpalast, aber auch im Norden das Gebiet nahe der Hauptstrasse, die zum Flughafen führt.
Dazwischen liegt im Nordwesten das weite Aussenquartier von Hasaba. Dort herrscht der Stammeschef der Hasched-Stammesförderation, Sadeq al-Ahmar. In einem ummauerten Wohngelände hat er sein städtischen Hauptquartier aufgeschlagen. Dieser ganze weite Stadtteil wird von seinen bewaffneten Stämmen beherrscht.
Die bittersten Feinde des Staatschefs
Die al-Ahmar Familie ist von Ali Saleh abgefallen und bildet seither mit ihren bewaffneten Stammesleuten eine dritte Kraft, die mit den Demonstranten sympathisiert, jedoch bereit ist, mit den Waffen gegen den Staatschef und seine Truppen zu kämpfen, während die Demonstranten weiterhin auf unbewaffnete Massendemonstrationen setzen, um seinen Rücktritt zu erreichen.
Ali Saleh unter der Obhut der Saudis
Ali Saleh Abdullah, der bei einem Attentat verletzte Staatschef, hat von Saudiarabien aus mehrmals ankündigen lassen, dass er „demnächst“ nach Jemen zurückkehren werde. Er trat sogar am Fernsehen aus und gab seine baldige Rückkehr bekannt. Doch bisher ist er nicht zurückgekehrt.
Man kann vermuten, dass die saudischen Behörden alles tun, was sie vermögen, um Ali Saleh Abdullah von einer Heimkehr abzuhalten und ihn zum Rücktritt zu bewegen. Doch weiss niemand, wie weit sie dabei gehen würden, falls er diese Aufforderung in den Wind schlägt. Würden sie ihn an der Ausreise hindern oder ihn schliesslich doch ziehen lassen?
Stabilität wichtiger als Demokratie
Die Saudis, die Golfstaaten, aber auch die Amerikaner hoffen, den Staatschef doch noch dazu zu bringen, dass er seinen Rücktritt erklärt und dadurch den Weg zu einem einigermassen geordneten Übergang zur Nach-Saleh-Epoche öffnet. Die Demonstranten verlangen, dies müsse eine demokratische Epoche werden. Dies allerdings ist für die Saudis, die Golfstaaten aber auch für die Amerikaner eher zweitrangig. Wichtiger für sie ist, dass das Land endlich zur Ruhe kommt und Stabilität eintritt.
Die Ahmar als bitterste Feinde des Präsidenten
Die Ahmar-Familie und ihre Stammesanhänger gelten den Parteigängern des Staatschefs als die Verantwortlichen für das Bombenattentat, bei dem Ali Saleh am 3. Juni verletzt wurde. Die Ahmar bestreiten dies. Doch hat das Attentat das bewaffnete Lager der Ahmar und jenes des Staatschefs zu unversöhnbaren Feinden gemacht. So kam es am 15. September rund um das Hasaba-Quartier zu Schiessereien zwischen den Stammeskämpfern der einen und den Elitetruppen der anderen Seite. Zuvor galt ein Waffenstillstand, der formell nie aufgekündigt worden war.
Scharfschützen schiessen auf unbewaffnete Demonstranten
Zur gleichen Zeit beschlossen die Demonstranten, die sich zuvor meist ruhig in ihrem Bezirk bei der Universität aufgehalten hatten, unbewaffnet auf den Präsidentenpalast zu marschieren. Viele Tausende machten sich am 18. September auf den Weg. Wahrscheinlich war dies ein Versuch der Demonstranten, ihrer Bewegung wieder Gehör zu verschaffen, bevor sie im Kampfeslärm der Stammesleute mit den Sicherheitstruppen unterging.
Doch die Sicherheitstruppen waren offenbar nicht gewillt, einen Marsch auf ihr Machtzentrum hin, den Präsidentenpalast, zu dulden. Auf den Dächern hatten sie Scharfschützen in Stellung gebracht. Diese eröffneten das Feuer auf die Demonstranten. 26 Menschen starben, gegen 300 wurden verletzt. 26 von ihnen befinden sich in kritischem Zustand. Auch Augenzeugen berichten, dass Scharfschützen das Feuer auf die Demonstranten eröffnet haben.
Nach der Sprachregelung von Damaskus
General Ali Saleh allerdings, einer der Neffen des Staatschefs und Kommandant der Sicherheitstruppen, erklärte den Medien, seine Polizisten und Soldaten hätten nicht scharf geschossen. Einzig Tränengas sei eingesetzt worden. Die Demonstranten selbst und ihre Freunde hätten aufeinander geschossen. Das hört sich so an, als ob der General aus den Propagandabehauptungen der syrischen Behörden eine Lehre gezogen habe. Sie geben stets angeblichen "bewaffneten Banden" die Schuld an den Erschiessungen von Zivilisten.
Stiessen auch reguläre Truppen zusammen?
Es gibt auch Meldungen, wonach weitere Militäreinheiten zu den Demonstranten übergelaufen sind. Ferner soll es auch zu Schiessereien zwischen den Truppen des Staatschefs und der 1. Panzerdivision gekommen sein. Diese Division ist von den Kräften des Staatschefs abgefallen. Solche Meldungen wurden von einem Sprecher des Kommandanten der Panzerdivision, Ali Mohsins, dementiert. Ali Mohsins hat zwar offiziell seine Bereitschaft erklärt, die Demonstranten zu verteidigen. Er versucht aber offenbar, einen offenen Zusammenstoss zwischen Einheiten der Armee zu verhindern. Denn dies würde wahrscheinlich endgültig den Beginn eines Bürgerkrieges markieren.
Erneut Konfrontation ohne Lösung
Am Tag nach diesem Blutbad vom 19. September wurden zwei weitere Tote gemeldet. Doch die Kämpfe scheinen abgeklungen zu sein und alle Einheiten kehrten wieder in ihre bisherigen Stellungen und Lager zurück.
Die Hauptstadt bleibt geteilt in drei rivalisierende und bewaffnete Machtzentren. Der neue Blutzoll kann nur zur Verschärfung der Spannungen beitragen. Vermittler, die nach Formeln suchen, die dem Staatchef erlauben würden, abzutreten, fehlen nicht.
Doch Ali Saleh Abdullah in Saudi Arabien ist nur noch ein Symbol. Es geht nicht mehr wirklich um seinen Rücktritt. Es geht nur noch darum, wer sich durchsetzen kann. Sind es die Verwandten des Staatschefs und die Elite- und Sicherheitstruppen, die ihnen loyal gesinnt sind? Oder ist es – auf der andern Seite – die Ahmar-Familie mit ihren Stämmen? Oder die 1. Panzerdivision mit ihrem Kommandanten? Oder die unbewaffneten Demonstranten?
Während in Sanaa das Machtringen weitergeht, liefern sich im Süden und Norden des Landes bewaffnete Kräfte weitere Auseinandersetzungen. Da brechen vor allem lokale Spannungen auf. Die Zusammenstösse nehmen dabei immer mehr den Charakter von Bandenkriegen an. Dies birgt zusätzlich die Gefahr in sich, dass das ganze Land in verschiedene Teile zerbricht.