Der Groll der Flamen auf die Wallonen hat für Aussenstehende etwas Seltsames an sich. Da leben zwei Volksgemeinschaften seit 1815, seit dem Wiener Kongress, zusammen – und reden laut über ihre Scheidung.
Neu ist das nicht. Berühmt ist ein Wort des belgischen Sozialistenführers Jules Destrée, der auf einer Briefmarke verewigt ist. Im Jahre 1912 schrieb er König Albert I. einen Brief: „Sire, lassen Sie mich Ihnen eine grosse, schreckliche Wahrheit sagen: Es gibt keine Belgier, aber es gibt Wallonen und Flamen“. König Albert wusste, dass Destrée Recht hat, aber eine Trennung der beiden Landesteile „wäre schlimmer als die gegenwärtige Situation“.
Heute sind sich da viele nicht mehr so sicher. Bart de Wever, der flämische Nationalistenchef, hält eine Teilung des Landes für die "bessere Lösung". Er hat jetzt einen Kompromissvorschlag vorgelegt, wie man aus der über viermonatigen Regierungskrise herauskommen könnte. Die Wallonen haben den Vorschlag bereits abgelehnt.
Die Flamen – „die Katholiken, die nie lachen“
Die frankophonen Wallonen hatten Belgien bis in die 1960er-Jahre dominiert. Sie bauten im Süden des Landes, in den Ardennen, Kohle und Stahl ab. Sie wurden reich und demütigten die Holländisch sprechenden Flamen, die an der Küste leben. Die Wallonen drängten ihnen die französische Sprache auf und verspotteten sie. Die Flamen waren Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse.
Jacques Brel war einer der begnadetsten Chansonniers des letzten Jahrhunderts. Er, ein in Frankreich gefeierter Wallone, sang Schreckliches über die Flamen. Er verspottete sie mit Inbrunst. Sie, die Super-Katholiken, würden nur Kinder machen und nie lachen; sogar beim Tanzen seien sie ernst. "Les Flamands ce n’est pas souriant. Ce n’est pas frémissent“.
Jacques Brel ist nicht irgendein Aussenseiter. Er ist selbst in Flandern ein Nationalheiligtum. Nur 60 Prozent der Belgier kennen den Namen des Ministerpräsidenten, 92 Prozent kennen den Namen des Königs – und 100 Prozent kennen den Namen Jacques Brel.
“Nazis während des Krieges“
Die Wallonen werfen den Flamen – nicht immer zu Unrecht – vor, während der Nazi-Zeit mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Und Brel sang eine der brutalst-möglichen Abrechnungen. „Messieurs les Flamingands, seit allzu langer Zeit schaudert es mich vor euch. Nazis während der Kriege, Katholiken unter sich, ihr kotzt mich an“. „Ihr verschmutzt Flandern, doch Flandern wird euch richten, … ich verbiete euch, unsere Kinder zu lehren, Flämisch zu bellen.“ Sogar die Nordsee, die einst bis nach Bruges reichte, habe sich zurückgezogen, weil die Flamen gekommen seien.
Diese Chansons sind keine Nischenprodukte. Sie werden noch heute in Wallonien und Frankreich zu Hunderttausenden verkauft und gespielt.
Doch die flämische Rache war süss. Mitte des letzten Jahrhunderts kam die Wende. Es kamen der Niedergang der Kohleförderung und die Stahlkrise der 50erJahre. Heute ist Wallonien das „Armenhaus der Nation“. Jetzt sind es vor allem die Flamen, die einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben und die Wallonen demütigen. Bis Mitte der Sechzigerjahre blieben die Flamen benachteiligt, doch dann stiegen sie auf die Barrikaden.
Jetzt also wollen sich viele Flamen von den Wallonen abspalten. Und, das ist neu: auch die frankophonen Wallonier, halten eine Trennung des Landes für möglich.
“Wir müssen uns auf ein Ende von Belgien vorbereiten“
Noch nie hat man so offen über einen möglichen Bruch gesprochen wie jetzt. Früher waren es nur die Rechtsextremen unter den Flamen, die eine Trennung verlangten. Doch längst sind es auch gemässigte Parteien, die diese Vision für möglich halten. "Wir müssen uns auf ein Ende von Belgien vorbereiten", sagte die Parteivorsitzende der Sozialisten Laurette Onkelinx in einem Interview mit der Zeitung "La Dernière Heure".
Diese Haltung vertritt auch der Vorsitzende der wallonischen Region, Rudy Demotte. Er sagt, die Zeit sei gekommen mit "allen Optionen" zu rechnen. Auch mehrere intellektuelle und politische Vereinigungen in Flandern, wie Pro Vives, propagieren eine Trennung.
Auch an flämischen Universitäten und in flämischen Wirtschaftskreisen stösst die Scheidungsidee auf viele Sympathien. Die Flamen sind je länger je mehr überzeugt, dass zu viel von ihrem Geld nach Wallonien transferiert wird.
Die Flamen klagen, dass ihre Steuern nach Wallonien flössen. Sie würden die Sozialleistungen der faulen Frankophonen finanzieren. Die Wallonen seien arbeitsscheu, „professionelle Arbeitslose“. Eine Parallele zu Norditalien und Umberto Bossi ist nicht zu verkennen. Ein reicher Landesteil will den ärmeren nicht mehr finanzieren.
Gerolf Annemans, ein Rechtaussen-Politiker, hat in einem Buch im Detail aufgezeigt, wie die institutionelle, verwaltungsmässige und politische Entflechtung der beiden Landesteile vor sich gehen könnte.
Belgien – das verkannte Land
Im Moment ist Belgien wieder einmal ohne Regierung. Am 13. Juni hatten Neuwahlen stattgefunden. Die separatistische Neu-Flämische Allianz N-VA unter Bart De Wever errang 27 der 150 Sitze. Damit ist seine Partei stärker als die französischsprachigen Sozialisten. Sein Wahlerfolg ist Wasser auf die Mühlen der separatistischen Schreihälse. Seit über vier Monaten versuchen die Parteien, eine Regierung zu bilden – ohne Erfolg.
Belgien ist ein in Europa verkanntes Land. Man denkt an Kinderschänder, an Pädophile, an blutige Kolonialisten, an Regierungskrisen und EU-Bürokratie. Doch die Belgier beider Landesteile gehören zu den lebenslustigsten, liebenswürdigsten und humorvollsten Menschen Europas – nur kennt sie kaum einer.
Sie sind nicht überheblich wie viele Franzosen. Dass diese Franzosen über sie lachen, stört die Belgier nicht. Im Gegensatz zu den Franzosen können sie über sich selbst lachen. Belgische Witze, les blagues belges, haben Hochkonjunktur. Berühmt ist Belgien für seine Comics. Hergé und sein Tintin sind Belgier. Und die belgische Küche gehört zu den besten. Es gibt pro Kopf in Belgien mehr Michelin-Sterne als im hochgejubelten Frankreich. Dass auch die Pommes Frites in Belgien und nicht in Frankreich erfunden wurden, ist vielleicht – ernährungsmässig – keine Pioniertat. Aber dass die belgische Schokolade besser als die schweizerische ist, wissen die Belgier seit jeher.
Die Landschaften, die flämischen Kanäle, die wallonischen Wälder sind wunderbar. Die Städte mit ihren teils spanischen Traditionen sind herrlich. Und die Nordsee in Knokke-le-Zout, in Ostende oder Blankenberge hat etwas wunderbar Melancholisches und Poetisches. Bruges/Brugge, das Venedig des Nordens, gehört zu den schönsten Städten der Welt. Meist hängt der Himmel tief, wie Brel singt. Und all das soll jetzt auseinanderbrechen?
Ein Land mit drei Ministerpräsidenten
Als König Baudouin im Sommer 1993 in Spanien starb, ging – vielleicht zum letzten Mal – eine pathetische Solidaritätswelle durchs Land. Baudouin gelang es, eine Klammer zu bilden. Als er starb versammelten sich vor dem Königlichen Palast Tausende weinender Belgier beider Landesteile. Eine ältere Frau mit Blumen in den Händen sagte mir: Sie werden sehen, jetzt bricht Belgien auseinander.
Baudouins Nachfolger, Albert II., ist zwar ein ehrenwerter Mann, doch ihm fehlt der Nimbus seines Vorgängers.
Eigentlich ist der ganze Streit ein Witz. Denn eigentlich ist Belgien schon längst kein richtiger Staat mehr. Es gibt offiziell drei Regionen: Flandern, Wallonien und die Hauptstadt Brüssel. 1994 wurde die Verfassung revidiert. Allen drei Regionen wurde grosse Autonomie gewährt. Die kulturelle Selbständigkeit jeder Gemeinschaft wurde in der Verfassung festgeschrieben. Jede Region hat einen eigenen Ministerpräsidenten und ein eigenes Parlament. Ein Land mit drei Ministerpräsidenten, das gibt’s nicht überall.
Belgien ist also (noch) eine Konföderation (Confédération) aus Flamen und Wallonen. Berühmt ist das Wort eines Verfassungsrechtlers, der auch Senator ist: „Le con- féderalisme est le fédéralisme des cons“. „Con“ heisst auf Französisch „Dummkopf“.
Ein Viertel der Brüsseler leben unter der Armutsgrenze
Flandern und Wallonen nehmen kaum Notiz voneinander. Jede Region hat ihre eigenen Zeitungen. Das belgische Fernsehen, RTBF/VRT besteht aus zwei komplett separaten Teilen. Im Vergleich dazu stehen die vier SRG/SSR-Stationen in einem engen Liebesverhältnis. RTBF und VRT (früher: BRT) lieben sich gar nicht.
Und Brüssel, die Hauptstadt Belgiens, die Hauptstadt Europas? Sie liegt fast in der Mitte zwischen Wallonien und Flandern. Offiziell ist die Stadt zweisprachig, doch faktisch ist sie klar französisch. In Brüssel leben 55 Prozent Wallonen, 15 Prozent Flamen, 30 Prozent Ausländer.
Brüssel ist zwar die Hauptstadt, aber kein goldenes Pfand. Der Stadt geht es wirtschaftlich nicht gut. Ein Viertel der Bewohner leben unter der Armutsgrenze, ganze Strassenzüge verrotten, sind „balkanisiert“. Wo noch vor zwanzig Jahren edle Jugendstil-Häuser protzten, bröckelt heute der Zement. 35 Prozent der unter 25Jährigen sind arbeitslos.
Wem würde denn Brüssel bei einer Trennung des Landes gehören? Einige flämische Separatisten wollen die Stadt gar den Wallonen überlassen. Sie wollen die enormen Schulden der Hauptstadt nicht übernehmen. Andere möchten, dass Brüssel eine Art Eigenleben zwischen den beiden Landesteilen hat – eine Art offene Stadt.
Den Flamen das Wasser abgraben
Belgien müsste ja nicht gleich in zwei unabhängige Staaten zerbrechen. Diskutiert wird die Idee von zwei völlig autonomen Landesteilen mit einer Art supranationaler Skelett-Regierung. Und: Man diskutiert allen Ernstes darüber, dass Wallonien einen Zugangskorridor zur Nordsee erhielte. Da lachen zwar die Belgier, doch nicht deswegen ist diese Idee vom Tisch. Sie ist vom Tisch, weil die Flamen den Wallonen kein Land für den Korridor geben wollen.
Wäre Wallonien überhaupt lebensfähig? Würde es sich Frankreich anschliessen. Le „Département de Wallonie“? Eine Schreckvorstellung für alle Wallonier.
Die Tschechoslowakei ist zerbrochen, der Kosovo hat sich von Serbien losgelöst, Padanien träumt von Eigenständigkeit, ebenso viele Basken und Katalanen. Wieso soll Belgien, das vor 180 Jahren unabhängig wurde, nicht bald einmal aus zwei Belgien bestehen?
Noch ist es nicht so weit. In Meinungsumfragen spricht sich regelmässig eine Mehrheit der Belgier – in beiden Landesteilen – für eine Beibehaltung des jetzigen Staates aus. Es gibt viele, viele vernünftige Belgier, die die andere Landessprache lernen und die andere Volksgruppe respektieren. Und wahrscheinlich wird es irgendwann einmal auch wieder eine belgische Regierung geben.
Der belgische Witz schlägt selbst in schwierigen Stunden durch. Die Frankophonen haben einen Trumpf in der Hand: das Wasser. Wallonien mit den Ardennen ist das Wasserschloss Belgiens. Hier liegen die Quellen, und das Wasser strömt dann nach Flandern. Also kamen Wallonen auf die Idee, den Flamen das Wasser abzuschneiden. Im Internet wird diese Idee emotional diskutiert. Wie Flandern konkret ausgetrocknet werden soll, weiss allerdings noch niemand.
Der König – der letzte Belgier?
Belgien ist nicht nur das Land der guten Küche, es ist auch das Land des Biers. Nirgends ist die Bierkultur so nuanciert und facettenreich wie in Belgien. Eines der Biere heisst „La mort subite“ – der sofortige Tod. Belgischer Humor. Doch einen sofortigen Tod wird Belgien nicht sterben. Trotz sehr lauter, ernstzunehmender, nie gehörter Worte wird Belgien wohl nicht so schnell platzen. Eine rasche Scheidung ist wenig wahrscheinlich. Doch die neuen, aggressiven Töne sind beängstigend.
Wird König Albert II. bald der letzte Belgier sein? Viele nehmen es mit Humor. EU-Präsident Herman Van Rompuy, ein flämischer Christdemokrat, gibt sich gelassen. Die Belgier seien so zerstritten, witzelte er, die würden sich nie auf eine Trennung einigen können. Und wie würde die Staatsschuld von 350 Milliarden Euro aufgeteilt? Da Wallonen und Flamen diese Probleme nicht lösen können, werden sie wohl zusammenbleiben.
So wird in der Bäckerei von Sint-Amands die Verkäuferin weiterhin kein Französisch sprechen. Ausser es kommt ein Schweizer.
Les Flamingands, chanson comique (Jacques Brel)
Messieurs les Flamingants J'ai deux mots à vous rire Il y a trop longtemps Que vous me faites frire À vous souffler dans le cul Pour devenir autobus Vous voilà acrobates Mais vraiment rien de plus
Nazis durant les guerres Et catholiques entre elles Vous oscillez sans cesse Du fusil au missel Vos regards sont lointains Votre humour est exsangue Bien qu'y aient des rues à Gand Qui pissent dans les deux langues Tu vois quand j'pense à vous J'aime que rien ne se perde Messieurs les Flamingants Je vous emmerde
Vous salissez la Flandre Mais la Flandre vous juge. Voyez la mer du nord Elle s'est enfuie de Bruges. Cessez de me gonfler Mes vieilles roubignoles Avec votre art flamand-italo-espagnol. Vous êtes tellement tellement Beaucoup trop lourds Que quand les soirs d'orage Des chinois cultivés Me demandent d'où je suis, Je réponds fatigué Et les larmes aux dents : "Ik ben van Luxembourg". Et si aux jeunes femmes, On ose un chant flamand, Elle s'envolent en rêvant Aux oiseaux roses et blancs
Et je vous interdis D'espérer que jamais à Londres Sous la pluie on puisse Vous croire anglais Et je vous interdis À New-York ou Milan D'éructer Messeigneurs Autrement qu'en flamand Vous n'aurez pas l'air cons Vraiment pas cons du tout Et moi je m'interdis De dire que je m'en fous Et je vous interdis D'obliger nos enfants Qui ne vous ont rien fait À aboyer flamand Et si mes frères se taisent Et bien tant pis pour elles. Je chante persiste et signe : Je m'appelle Jacques Brel ....