Man sollte nicht vergessen, wie es in Grossbritannien zum Pro-Brexit-Entscheid vor zwei Jahren gekommen ist: Der seit 2010 als Premier amtierende David Cameron stand im zunehmenden Gegenwind des EU-skeptischen Flügels seiner eigenen Konservativen Partei und vor allem der EU-feindlichen UKIP. Letztere wurde in der Europawahl 2014 stärkste Kraft im Land. Schon im Januar 2013 hatte Cameron angesichts einer wachsenden EU-Gegnerschaft angekündet, im Fall seiner Wiederwahl 2015 würde er spätestens 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU abhalten.
Unter dem Eindruck der erstarkenden EU-Gegner nützte dann aber der gemässigte Pro-Europäer Cameron nicht einmal die selbst gesetzte Frist aus, sondern liess bereits am 23. Juni 2016 abstimmen – offensichtlich in Sicherheit gewiegt von Meinungsumfragen, die einen Vorsprung des Remain-Lagers sahen. Diese Fehleinschätzung dürfte auch ein Grund gewesen sein für die allzu lässige Vorbereitung des allfälligen EU-Austritts durch die Regierung. Auf der Seite der Brexit-Befürworter war man an seriöser Abklärung ohnehin nicht interessiert. Ihnen genügte der Slogan „We want our country back“ in schlagkräftiger Kombination mit Zerrbildern der EU und frei erfundenen Zahlen über die Kosten der Mitgliedschaft.
Seit dem Entscheid vor zwei Jahren eiern die Austrittsverhandlungen zwischen London und Brüssel auf der Stelle, weil die Briten im Einzelnen sich nicht einig sind, was sie wollen. Klar sind bisher nur zwei Eckdaten: der Austrittstermin im März 2019 und eine anschliessende Übergangsfrist bis Ende 2020. Von den vielen strittigen Fragen ist derzeit keine auch nur ansatzweise beantwortet: Wird die EU-Mitgliedschaft durch eine Zollunion abgelöst werden? Welcher der Partner kann welche finanziellen Forderungen geltend machen? Was geschieht mit der inner-irischen Grenze, die beim Austritt zur Schengen-Aussengrenze wird? Wie werden sich die europäisch verflochtenen Industrien bei einem harten Schnitt orientieren? (Airbus und Jaguar Land Rover haben kürzlich für diesen Fall den Abzug von der Insel angedroht.)
Warum ist das alles ein Schulbeispiel? – Weil der Brexit heute als Exempel einer Politik dasteht, die mit raschem, heftigem Paukenschlag ein Gestrüpp von innenpolitischen Hindernissen und Schwierigkeiten beiseite fegen wollte. Erfolgreiche Kraftakte dieser Art gehören ins Reich der Mythen. In der Realität gehen sie schief. Verantwortliche Politik und Instant-Lösungen passen nun mal nicht zusammen. Grosse Schritte verlangen umfassende Abklärungen und minutiöse Vorarbeiten. Max Webers Diktum von 1919 hat nichts von seiner Gültigkeit verloren: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass.“