Es gibt zwei Erzählstränge, die aufeinander stossen, wenn man versucht zu verstehen und zu erklären, wie es zu solchen Untaten kommen kann, wie den am 18. November geschehenen Mordanschlag auf die Kehilat Bnei Torah Synagoge in Jerusalem.
Anlass für Rache
Eine der beiden Berichttendenzen ist die medial mächtigere, die viel Raum in den Zeitungen und auf den Bildschirmen der westlichen Welt einnimmt. Sie beginnt mit Äusserungen der Empörung über die Bluttat und erklärt diese rückblickend damit, dass Israelhasser dahinter steckten "wie die Hamas", doch auch Mahmud Abbas sei nicht ohne Schuld, denn er versuche ja, sich mit der Hamas zusammenzuschliessen. Es gibt extremistische Gruppen, die Rache fordern gegen "die Araber", die in Jerusalem leben.
Dieser Diskursstrang wird verbunden mit der "völligen Ablehnung"des jüdischen Staates durch die Hamas und den Raketen, die Hamas "zu Tausenden" auf Israel schoss und vielleicht wieder abschiessen werde. Dies berechtige die "schwere Hand", die der Ministerpräsident versprach.
Die Sicht der Palästinenser
Doch das Geschehen kann nicht erklärt werden, wenn man nicht auch die Gegenerzählung kennt. Sie beginnt mit der in Frage Stellung des seit 1967 bestehenden Statuts der al-Aqsa-Moschee durch bestimmte israelische Gruppen vom vergangenen Oktober. Die seit der israelischen Eroberung im Sechstagekrieg bestehende und immer noch gültige Regelung legt fest, dass das Areal der al-Aqsa-Moschee von einer Waqf-Kommission aus islamischen Gottesgelehrten und Würdenträgern beaufsichtigt wird.
Waqf ist das arabische Fachwort für muslimische religiöse Stiftungen. Diese Kommission wird ihrerseits vom jordanischen König beaufsichtigt. Diese Regelung ist im Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien festgeschrieben.
Israel regelt seinerseits den Zutritt zum Areal der al-Aqsa-Moschee. Dort dürfen nur Muslime beten, doch Angehörige anderer Religionen dürfen Besuche abstatten. Der Gebetsort für Juden ist die Klagemauer. Doch israelische religiöse und nationalistische Gruppen - die bekannteste ist jene der Bewegung des Tempelberges - traten einmal mehr mit der Forderung hervor, die Juden sollten die Erlaubnis erhalten, auf dem al-Aqsa-Moschee Areal zu beten.
Neu daran war, dass diese Forderungen in der Knesset und bei gewissen Ministern der Regierungskoalition Zustimmung fanden. Die Tempelberg-Bewegung begründet ihre Forderung mit der Aussage, dort habe einst der Salomonische Tempel gestanden. Für die Muslime und natürlich besonders für die dort heimischen Palästinenser zählt mehr, dass das Gelände der al-Aqsa-Moschee seit über 1300 Jahren den drittheiligsten Ort des Islam darstellt
Der neuralgische Punkt Jerusalems
Agitation um dieses Heiligtum hat schon oft zu bitteren und blutigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslimen geführt. Die letzte in einer langen Kette, die schon zur Zeit des britischen Mandates begann, war durch den provokativen Besuch Ariel Sharons am 28. September 2000 gegeben. Sharon war begleitet von Hunderten von bewaffneten Sicherheitsleuten. Sein Besuch führte zu Zwischenfällen und in den folgenden Tagen zu Toten durch scharfe Schüsse der Polizei.
Dies bildete den Auftakt zur Zweiten Intifada (Erhebung) der Palästinenser der Westjordangebiete. Sie wird auch die al-al-Aqsa-Moschee-Intifada genannt. Sie endete vier oder fünf Jahre später (je nachdem, welchen Zeitpunkt man als ihr Ende ansetzt) mit zwischen 3000 und 4500 palästinensischen sowie gegen 1000 israelischen Todesopfern. Sie verursachte auch den Beginn des Baus der Sperrmauer, die weitgehend innerhalb der Besetzen Gebiete verläuft. Damit ist die bis heute andauernde Niederhaltung des Westjordanlandes durch die permanente Präsenz der israelischen Armee verbunden.
Im palästinensischen Sprachgebrauch nennt man das kurz, "die Besetzung". Praktisch hatte, wie im Rückblick erkenntlich, die Zweite Intifada zum Ende der Chancen der seit 1993 angekündigten und versprochenen Zweitstaatenlösung geführt. Seither ist von dieser Zweistaatenlösung nur noch in diplomatischen Gesprächen und fruchtlosen Verhandlungen die Rede. In der politischen Realität existiert sie nicht mehr, weil Israel mit Gewalt durchsetzt, dass immer mehr Siedler in den Besetzten Gebieten angesiedelt werden.
Wiederaufbrechen einer alten Wunde
Dies ist der Hintergrund der palästinensischen Sicht auf die al-al-Aqsa-Moschee. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit spielen sich vor diesem Hintergrund ab. Dabei gab es zwei Akte, die in palästinensischer Sicht miteinander verbunden sind: Der erste war das Vorspiel zu dem jüngsten Gaza-Krieg. Er begann mit der Erschiessung von drei jugendlichen Israelis durch eine Extremistengruppe von Hebron, die - jedenfalls aus der Sicht der Palästinenser - nicht zur Hamas gehörte, sondern eher zu deren Herausforderern auf ihrem linken, extremistischen Flügel.
Die israelische Polizei reagierte darauf, indem sie eine Treibjagd auf die Hamas in den Besetzten Gebieten eröffnete und viele der führenden Hamas Politiker einkerkerte. Die Treibjagd kostete auch zahlreiche Menschenleben. Gleichzeitig fingen israelische Extremisten aus Siedlerkreisen einen palästinensischen Jugendlichen und verbrannten ihn lebend, um ihrerseits Rache zu nehmen. Dies provozierte den Raketenbeschuss aus Gaza und führte zu 52 Tagen der Kriegshandlungen gegen Gaza mit schweren Zerstörungen und Verlusten von über 2100 Menschenleben in Gaza, davon waren 72 Israeli. Zur Zeit gibt es einen bitteren Streit über die Verhinderung des Wiederaufbaus der Stadt durch israelische Liefersperren. Kürzlich warnte die Hamas, neue Kriegshandungen könnten ausbrechen.
Was "beten" bedeutet
Der zweite Akt nach dem Gazakrieg begann mit den erneuten Forderungen bestimmter jüdischer Gruppen, auf dem Gebiet der al-Aqsa-Moschee zu beten. Was die Forderung "zu beten" in der Praxis bedeuten könnte, steht den Bewohnern von Jerusalem täglich vor Augen. Die Klagemauer und ihre Umgebung wurde zu einem jüdischen Heiligtum ausgebaut.
Dazu wurde ein grosser Vorplatz angelegt. Um ihn anlegen zu können, wurde unmittelbar nach der Eroberung im Sechstagekrieg ein historisches Altstadtviertel Jerusalems zerstört, in dem arabische Muslime gelebt hatten. Es war als Maghrebi-Viertel bekannt, also als Nordafrikaner-Quartier. Angesichts der physischen Übermacht Israels besteht Angst unter den Palästinensern Jerusalems, die Forderung nach Gebetsbewilligung werde sich als das scharfe Ende eines Keils erweisen, dessen Eindringen auf die Enteignung des Areals der al-Aqsa-Moschee und seine Umwandlung zum "Tempelgebiet" der Juden abziele.
Autos als Waffen
Diese Befürchtungen werden bestärkt durch den Umstand, dass es in der Tat laut vorgebrachte Forderungen in diesem Sinne gibt, die von bestimmten jüdischen Gruppen vertreten werden. Die erneute Agitation um al-Aqsa-Moschee führte am 15. Oktober zum Anschlag auf Rabbi Yehuda Glick, den Vorsitzenden der Tempelbergbewegung, der tödlich verletzt wurde. Sein mutmasslicher Mörder wurde von der Polizei erschossen. Die Reaktion auf den Anschlag von israelischer Seite war ein Verbot für alle Männer unter 50 und alle Frauen unter 40 Jahren, die al-Aqsa-Moschee zu besuchen.
In dem dadurch entstandenen Klima kam es zweimal zu mutmasslichen Mordaktionen durch palästinensische Autofahrer, die israelische Fussgänger anfuhren. Beim ersten kam ein israelisches Kleinkind ums Leben, der zweite "Auto-Anschlag" wie man sie nun nennt, führte zu Verletzungen von 13 Personen. Die angeblichen Täter wurden beide Male von der Polizei erschossen.
Der Erhängte
Es kam zur Erschiessung eines weiteren Autofahrers durch die Polizei, wobei Bilder aufgenommen wurden, die zu zeigen schienen, dass die tödlichen Schüsse der Polizei nicht, wie von dieser behauptet, aus Notwehr abgegeben worden waren. Diese Bilder zirkulierten im Internet. Sodann wurde am vergangenen Sonntag spätabends ein palästinensischer Autobusfahrer an einem Draht erhängt in seinem Autobus im Autobusdepot von Arbeitskollegen gefunden. Die Polizei erklärte, es habe sich um Selbstmord gehandelt. Doch weder die Familie noch die palästinensischen Arbeitskollegen des Erhängten wollen dies glauben. Sie behaupten, das Opfer sei von Siedlern als Racheakt geschlagen, erwürgt und dann aufgehängt worden.
Ein palästinensischer Pathologe, der der Obduktion beiwohnte, sprach gegen den Selbstmordbefund und bestätigte die These der Familie. Arbeitskollegen des Toten wollen auch nicht an seinen Selbstmord glauben. Sie haben Streiks angekündigt und sie beklagen sich über zunehmende Drohungen von Seiten gewisser israelischer Passagiere. Was wirklich geschah, weiss niemand mit Sicherheit. Doch die Palästinenser sehen in erster Linie Polizeiexkutionen und Siedlermorde, die Israeli Autoanschläge als neueste Mordmethode.
Rivalitäten zwischen der Hamas und der PLO
Die Hamas hat den Mordanschlag in der Synagoge als einen Racheakt für den Erhängten erklärt. Ihre gewiss absichtlich provozierende Aussage lautet: "Das Verbrechen der Hinrichtung von Yussef al-Ramouni (so heisst der Busfahrer) spiegelt den Rassismus der Besetzung und der Siedler - die Antwort darauf muss sein, dass der Widerstand in all seinen Formen eskaliert!"
Die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) hat erklärt, die beiden von der Polizei erschossenen vermutlichen Attentäter in der Synagoge seien ihre Mitglieder. Die Volksfront gehörte früher zur PLO. Man hat seit langem nichts mehr von ihr gehört. Sie war einst in den 60er und 70er Jahren berühmt und berüchtigt für ihre Flugzeugentführungen. Sie ist heute der Ansicht, weder die PLO noch die Hamas seien "legitim", weil beide seit 2007 keine Wahlen mehr durchgeführt haben.
Mahmud Abbas hat den Mordanschag in der Synagoge verurteilt, jedoch in sehr kühlen Tönen: "Die Präsidentschaft verurteilt den Angriff auf jüdische Gläubige an ihrer Gebetsstätte und verurteilt die Tötung von Zivilisten unabhängig davon, wer sie vornimmt". Der scharfe Ton von der Hamas und der kühle von Abbas haben beide damit zu tun, dass die beiden theoretisch neu zusammengeschlossenen, tatsächlich aber rivalisierenden palästinensischen Organisationen sich in Wirklichkeit in einem komplexen Ringen um die künftige Macht über die Palästinenser befinden. Dieses soll den Übereinkünften nach in kommenden Wahlen entschieden werden. Doch ob es überhaupt zu einem Urnengang kommt, ist sehr ungewiss. In der Zwischenzeit versuchen beide Gruppen, die Gunst der Palästinenser für sich zu gewinnen.
Intifada der Einzeltäter?
Ministerpräsident Netanjahu hat verschärfte Polizeimassnahmen angeordnet und die Zerstörung der Häuser der erschossenen Mörder. Die palästinensische Knesset-Abgeodrnete Haneen Zoabi, die selbst den Unruhen um die al-Aqsa-Moschee Moschee beiwohnte, gibt eine kühle aber scharfe Einschätzung der Lage, wie sie sich nun ergibt. Sie sagte: "Es gibt einen wohlbekannten Zusammenhang zwischen tiefgreifender Unterdrückung und vertiefter Gewaltsamkeit. Dazu kommt die Vernachlässigung und Unterdrückung der jungen Generation von 15 bis 20 Jahren, die keine Möglichkeiten der Erziehung, der Ausbildung oder Arbeit erhalten. Dies facht die Wut der Palästinenser in Ostjerusalem an. Der Grund dafür ist die Abschnürung (Ost-)Jerusalems. Den Behörden ist es gelungen, durch den Mauerbau Jerusalem in eine belagerte Stadt zu verwandeln. Sie sind zuversichtlich, dass dies nicht zu einer neuen Intifada führen wird, weil die Ostjordangebiete dafür notwendig sind".
Die Rede von der kommenden Inifada ist auf der israelischen und auf der palästinensischen Seite in vieler Munde. Manche der Bewohner von Ostjerusalem sagen, sie stünden bereits mitten in der Dritten Intifada. Doch diese ist bisher keine Massenbewegung wie die vorausgehenden. Sie kann es möglicherweise auch gar nicht werden, weil die israelischen Sicherheitsdienste diesseits und jenseits der Sperrmauer zu effizient dafür sorgen, dass Massenbewegungen abgewürgt werden, bevor sie an Gewicht und Permanenz gewinnen. Doch ist es denkbar, dass statt der Massenbewegungen immer mehr Verzweiflungstaten von Einzelnen in der Art der jüngsten Anschläge begangen werden. Sie können als Anschläge mit suizidaler Komponente bezeichnet werden. Sie sind weniger leicht im Voraus erkennbar und daher weniger leicht einzudämmen als Massenbewegungen. Alle Gegenmassnahmen gegen solche ihren eigenen Tod in Kauf nehmende Täter und ihre überlebenden Verwandten und Gesinnungsgenossen werden unter den gegeben Umständen wahrscheinlich weitere ähnliche Einzeltäter motivieren.