
Tosender Applaus nach der Premiere, strahlende Gesichter im Publikum und natürlich auch beim Ensemble. «Agrippina», die Oper, die Georg Friedrich Händel im Alter von 24 Jahren geschrieben hat, ist in Zürich mit grosser Begeisterung aufgenommen worden.
Einer der Hauptdarsteller in dieser Produktion ist der polnische Countertenor Jakub Józef Orlsinki. Er ist international einer der Stars unter den Countertenören: jung, äusserst attraktiv und dank seiner phänomenalen Fähigkeiten als Breakdancer auch ein Begriff beim jungen Publikum, ausserhalb der Opernwelt. «Es geht mir gut und ich bin total aufgeregt», sagt Orlinski kurz vor der Premiere im Zürcher Opernhaus. «Ich liebe diese Musik», fährt er gleich fort und strahlt übers ganze Gesicht. «Und ich liebe es, hier in Zürich zu sein. Ich fühle mich sehr wohl in der Schweiz, ich mag Seen, ich mag Berge. Und ich mag das Opernhaus, zu dem ich eine gute Beziehung habe und auch schöne Erinnerungen.» Erinnerungen an Händels Oper «Belshazzar», als Orlinski 2019 – auf einer Riesenkatze reitend – schönste Melodien singen durfte.
Und nun ist er wieder da. Sportlich gekleidet, ein bisschen verwuschelt, aber übers ganze Gesicht strahlend. Er hat auch allen Grund zum Strahlen: In diesen knapp sechs Jahren seit «Belshazzar» hat seine Karriere einen grossen Sprung nach oben gemacht. Und mit Sprüngen kennt er sich ja aus. Seine waghalsigen Einlagen als Breakdancer, auf der Bühne oder auf den Strassen und Plätzen der Welt, sind mittlerweile legendär. Schon in jungen Jahren war er wohl schon ein richtiger Springinsfeld. «Ich habe viel Sport gemacht: bin herumgerannt, herumgesprungen, auf Bäume geklettert, habe Purzelbäume geschlagen, Rollerblading mit allen Tricks, Skateboarding, Snowboarding, Capoeira, Tennis …» Kein Wunder, dass Breakdance bei ihm so schwerelos aussieht.
«Agrippina» aus mehreren Perspektiven
«Agrippina» ist eigentlich schon eine alte Bekannte für den mit seinen 34 Jahren noch immer jungen Orlinski. «Als ich noch in New York an der Julliard School studierte, habe ich den ‘Narciso’ dort in einer Schulaufführung gesungen. Später, als ich mein Studium in Warschau abgeschlossen habe, bin ich für eine Platten-Aufnahme von ‘Agrippina’ kurzfristig für eine Sängerin eingesprungen, die krankheitshalber ausgefallen war. Den ‘Ottone’ habe ich auch schon gesungen, aber jetzt das erste Mal auf der Bühne.» So kennt er das Stück aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Und er lerne immer wieder etwas Neus dazu, betont er. Auch wenn man das Gefühl habe, ein Werk von A–Z zu kennen. «Das ist einfach grossartig und zeigt mir einmal mehr, wie wichtig es ist, geistig offen zu bleiben. Natürlich habe ich meine eigene Vorstellung von einer Rolle. Im Gespräch mit dem Dirigenten Harry Bicket kommt dann aber musikalisch wieder ein ganz neuer Aspekt hinzu. Ebenso mit der Regisseurin Jetske Mijnssen, die mir den ‘Ottone’ darlegte, wie ich ihn nie gesehen hatte. Diese Zusammenarbeit liebe ich sehr. Das macht echt Spass!»
Wenn der Name Jakub Józef Orlinski auf der Besetzungsliste steht, drängt sich die Frage geradezu auf, ob das Publikum auch den einen oder anderen Breakdance-Move erwarten darf. «Nicht wirklich …» sagt er mit einem entschuldigenden Lächeln und erklärt: «Es macht keinen Sinn. Es passt nicht rein. No action just for action … Ich finde das Regiekonzept grossartig und wirklich aussergewöhnlich. Ich hoffe, das Publikum durschaut all diese schwierigen Verbindungen und Beziehungen, denn es ist tatsächlich eine sehr dramatische Oper mit einem Hauch von Komödie. Es ist die Geschichte der Agrippina und deren Kampf um die Herrschaft. Unglaublich und faszinierend. Eine Geschichte, vor hunderten von Jahren geschrieben, und sie ist auch noch heute so relevant in gewissen Situationen unserer modernen Welt. Deshalb finde ich das Regie-Konzept so zeitgemäss und raffiniert.»
Vom Reiz der alten Musik
Countertenöre hört man vor allem in der alten Musik und im Barock. «Ja, für diese Stücke werden wir eben engagiert …», sagt Orlinski, «aber man kann das Repertoire erweitern. Philippe Jaroussky zum Beispiel hat auf seinem Album ‘Opium’ französische Chansons mit Schubert und deutschen Liedern gemischt. Solche Sachen probieren wir gern aus. Heutzutage gibt es auch viel zeitgenössische Musik, die für Countertenöre geschrieben wurde. Genial ist zum Beispiel ’Flight’, ein Stück, das der britische Komponist Jonathan Dove geschrieben hat. Ich habe Jonathan Dove an der Julliard School in New York kennengelernt. Es war nur eine Schul-Aufführung, aber Dove ist extra aus England nach New York gekommen, um mit uns Studenten über seine Komposition ins Gespräch zu kommen. Ahhh … das war überwältigend! Etwas aufzuführen und mit dem Komponisten darüber diskutieren zu können! Warum hat er das so gemacht oder so? Aus diesem und jenem Grund … und plötzlich verstand man alles … ahhhhhh … das ist einfach umwerfend. Mein Traum wäre es, mit Händel, Bach, Vivaldi … mit Scarlatti oder Monteverdi, mit diesen genialen Meistern zu diskutieren und ein paar Fragen zu stellen … und vielleicht auch etwas Anerkennung von ihnen zu bekommen für das was ich tu’ …» Orlinski sagt das lächelnd, mit aller Bescheidenheit, aber mit grossem Engagement für die alte Musik.
Natürlich gibt es auch für Orlinski andere Musik, aber dann zum Zuhören. «Strawinski und Verdi sind gewaltig, manchmal höre ich sie gern. Oder Werke von Schostakowitsch können einen tief aufwühlen, vor allem wenn man die Hintergründe kennt, die Umstände, unter denen er seine Stücke geschrieben hat, die politische Situation damals … Und Chopin, der seine Heimat so vermisst hat, er litt mit der Musik. Komponieren war ihm Nahrung für die Seele. Diese Musik zu hören, bringt einen fast um, so berührend ist es.»
Gleichzeitig liebt Orlinski die Schlichtheit der Barockmusik. «Natürlich ist sie auch komplex und manchmal kompliziert. Aber es gibt viele Stücke, die emotional so rein sind, dass man unmittelbar berührt wird, ohne den Komponisten oder den Text zu kennen, es ist einfach … wow!!! Und es ist auch ein toller Rhythmus drin … der einen mitreisst» … ergänzt Orlinski. Dieser Rhythmus und die Schönheit der Melodien würden das Publikum sofort betören. «Und wenn man die rhythmischen, die harmonischen und rhetorischen Teile in der Barockmusik entziffert, die Tonalitäten D-Dur oder G-Dur, dann weiss man sofort: Ah, da wird es feierlich oder dort bereitet sich jemand auf den Krieg vor, oder er hat ihn schon gewonnen, denn die Trompeten sind schon da, die Hörner auch … es macht Spass, solche Stücke zu entschlüsseln. Das Publikum muss sich da nicht auskennen, aber für uns als Interpreten ist es ein Riesenspass, solche Dinge zu kennen.»
Vom Bariton zum Countertenor
Countertenor, das ist ja eine sehr spezielle Stimmlage, die man nicht einfach so hat … die muss man erst mal bei sich entdecken und entsprechend ausbilden. Auch Jakub Orlinski wäre eigentlich ein Bariton. Dass er aber auch anders kann, das hat er schon früh entdeckt. Gesungen hatte er schon im Kinderchor, später dann, als der Chor Musik der Renaissance zu singen begann, war es Jakub, der mit der Technik der hohen Stimme brillieren konnte. «Ich habe mich damals total in diese Musik verliebt», sagt er heute noch mit verklärter Miene … «Es war meine erste Liebe und so bin ich Countertenor geworden, ohne zu wissen, dass dies eine Countertenor-Stimme ist. Für mich war es von Anfang an völlig normal.»
Jakub Orlinski lebt in Warschau. «Ein wunderbarer Ort!», schwärmt er gleich. «Polen hat sich sehr entwickelt. Als ich noch Student in Warschau war, hat kaum jemand Englisch gesprochen. Und heute ist es richtig europäisch geworden.» Für seine Engagements ist Orlinski allerdings mehrheitlich international unterwegs. Für die Stimme eine Herausforderung. «Da muss man selbst wissen, was die Stimme in einem bestimmten Moment braucht. Es ist ganz wichtig, sich nicht unter Druck zu setzen. Ich habe da eine goldene Regel: An einem Tag, an dem ich auftrete, gebe ich keine Interviews. Ich fokussiere mich auf das, was ich zu liefern habe, ich muss hundertprozentig vorbereitet sein. Sprechen ist für mich viel anstrengender als Singen. Ich bin ein ausgebildeter Sänger, kein ausgebildeter Redner. Mit der Stimme muss ich sehr, sehr vorsichtig sein. Und beim Reisen muss man seinen eigenen Rhythmus finden und wissen, was beim Jetlag hilft, wenn man von Europa in die USA reist, oder in die andere Richtung: Das ist komplett unterschiedlich. Man lernt sich selbst kennen und weiss, wie man damit umgehen muss, um nicht plötzlich dazustehen und entsetzt festzustellen, dass man noch nicht parat ist, zu singen … Man muss sich ständig selbst analysieren. Dein Körper ist dein Instrument und reist immer mit dir. Was man isst und trinkt, ist entscheidend. Aber ich versuche auch, nicht allzu viel darüber nachzudenken, sonst ist man wie gelähmt. Grundsätzlich denke ich, was passieren muss, passiert. Und wenn man immer nur ans Krankwerden denkt, wird man krank. Aber ich achte schon sehr auf meine Kondition, denn Singen findet nicht nur im Kopf statt, sondern im gesamten Körper. Auch wenn ich mal private Probleme habe, wirkt sich das sofort auf die Stimme aus. Es ist also wirklich wichtig, alles unter Kontrolle zu haben und gut zu sich selbst zu sein. Der Druck, unter dem man manchmal steht, kommt nicht in erster Linie von aussen, sondern aus unserem Innern. Manchmal ist es gut, ein bisschen Distanz zu sich selbst zu haben.»
Wundertüte «Stabat Mater»
Neben «Agrippina» in Zürich steht für Orlinski gleich noch ein zweiter Auftritt in der Schweiz bevor: im Mai wird er in der Genfer Kathedrale Saint-Pierre «Stabat Mater» von Giovanni Battista Pergolesi singen. Es ist eine szenische Aufführung des Grand Théâtre unter der Regie von Romeo Castellucci. «Da bin ich wirklich gespannt drauf», sagt er. «Und ich freue mich riesig auf die Zusammenarbeit mit Barbara Hannigan. Als ich sie in Aix-en-Provence das erste Mal hörte, habe ich mich sofort in ihre Stimme verliebt. Dann waren wir auch schon gemeinsam in einer TV-Show, in der sie dirigiert und gesungen hat. Ich kann es kaum erwarten!»
Momentan ist «Stabat Mater» allerdings noch eine Art Wundertüte für ihn, obwohl er es nicht zum ersten Mal singt. Bis jetzt hat er noch keine Ahnung, was in dieser Produktion auf ihn zukommt. «Es hiess einfach, wir sollen kommen und müssen das Stück auswendig können.»
Überall mit dabei sind natürlich auch seine 267’000 Follower. Allerdings nur via Instagram. Höchstpersönlich hält er hier seine Fans auf dem Laufenden. «Ich möchte meinem Publikum nah sein, es interessiert mich, wer mich hört.» Trotzdem staunte er nicht schlecht, als er 2020 bei seinen ersten Auftritten in Südamerika ausverkaufte Säle vorfand. «Ich war total verblüfft, dass riesige Häuser wie etwa das Teatro Colón in Buenos Aires oder das Theatro Municipal in Rio de Janeiro ausverkauft waren, obwohl ich zuvor nie in Südamerika war und keine TV-Show oder Interviews gemacht habe.» Sie kamen, weil sie ihn von Instagram her kannten und neugierig waren. «Das war ein sehr gutes Gefühl und ich mach’ dann auch gern ein ‘meet and greet’ als Anerkennung und Dank meinerseits. Es ist auch für mich ein wunderbares Gefühl, so viele Menschen persönlich zu sehen, die sich über meine Aufführungen und Konzerte freuen.»
Opernhaus Zürich
Georg Friedrich Händel «Agrippina»
Premiere 2. März 2025
Genf Cathédrale Saint-Pierre
Giovanni Battista Pergolesi «Stabat Mater»
12.-18.Mai 2025