Im fiktiv-dokumentarischen Spielfilm «Grauzone» von Fredi M. Murer sagt Mathias Gnädinger als von der schweizerischen Demokratie schwer enttäuschter Taxifahrer zu Giovanni Früh, dem Tontechniker Alfred in geheimen Diensten: «Ich habe meine Wohnung zur Republik erklärt. Wenn ich aus dem Haus gehe, bin ich im Ausland.» Für Fredi M. Murer ist es die Schweiz. Er sieht sie als Grauzone, als Land der Verunsicherung, Entfremdung und Orientierungslosigkeit, für die Kulturschaffenden als Staat der Repression.
Aktuell bis heute
Das ist die knappste Zusammenfassung des Films, der im Wettbewerb des Festivals Locarno 1979 uraufgeführt wurde. Jetzt legt Fredi M. Murer den Film, den er mit vierzig drehte, mit achtzig als DVD restauriert vor.
Murer tut es ohne jede nostalgische Gefühlsseligkeit, sondern mit dem politischen Anspruch, «Grauzone» besitze nach wie vor Gültigkeit. Eine digitale Re-Edition war für ihn geradezu zwingend. Nun bringt sie die Chance für eine nochmalige oder erste Beachtung dieser «Chronik eines Wochenendes».
Scharfer Beobachter und geistreicher Poet
Der in Zürich wohnhafte Murer wuchs in Altdorf auf, liess sich an der damaligen Kunstgewerbeschule zum Fotografen ausbilden und verbrachte studienhalber einige Monate in den USA. 1974 rückte er nach mehreren Experimental- und Dokumentarfilmen mit «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» in die erste Garde der Schweizer Regisseure auf. Fünf Jahre später löste er mit «Grauzone» erneut eine starke Resonanz aus – einschliesslich vernagelter Anwürfe.
Murers Filme regen an und regen auf. Sie werden mit Spannung erwartet und intensiv diskutiert. Seit sechzig Jahren prägt er als scharfer Beobachter, geistreicher Poet und gesellschaftspolitischer Analytiker die Geschichte der Siebenten Kunst.
Film für Film bestätigte Murer seine unverwechselbare künstlerische Begabung, so mit «Höhenfeuer», «Der grüne Berg», «Vollmond» und «Vitus». Festivalpreise im In- und Ausland, der Kunstpreis der Stadt Zürich und Locarnos Goldener Leopard für sein aussergewöhnliches Lebenswerk sind verdiente Ehrungen.
Die Schweiz in 77 Stunden
«Grauzone» spielt in der Gegenwart der auslaufenden 70er-Jahre, beginnt an einem Freitag um 17 Uhr und endet am darauffolgenden Montag um 12 Uhr. Olga Piazza als Julia, in einer Werbeagentur arbeitend, und Giovanni Früh als Alfred, Abhörspezialist für einen Grosskonzern, leben als kinderloses Paar Mitte dreissig in einer steril-gepflegten Wohnung in einem Zürcher Neubauquartier und leiden sich achtbar durch die Ehe.
Das wäre in keiner Weise verfilmenswert, bloss eine im Grundmuster sich flächendeckend ereignende Dauer-Geschichte. Bei Murer ist sie, feinnervig erzählt, hochinteressant.
Von progressiv zu repressiv
Ihm gelingt es, in Julias und Alfreds vier Wänden die als anpasserisch empfundene Schweiz zu spiegeln. Vom Wohnungsbalkon blicken wir auf den Beton von Wohnblöcken, Zufahrtswegen, Parkplätzen und einer Autobahn. Brutal öde. Eine mittelgrosse Grauzone. Im Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer und in der Küche sehen wir den trottigen Alltag des Ehepaars. Dessen Dialoge sind am längsten beim Streiten. Eine kleine Grauzone, ebenfalls als exemplarisch zu bewerten.
Murer vermehrt und vergrössert die Grauzonen als Abbilder einer Schweiz, die den 68er-Aufbruch bremst und sich von linksprogressiv zu rechtsrepressiv wendet. Es ist schwierig, dies an harten Fakten festzumachen. Eine der wenigen fassbaren Tatsachen ist der 21. März 1976, der Sonntag, an dem eine Zweidrittelmehrheit die «Volksinitiative für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieb, Unternehmen und Verwaltung» ablehnt.
Dieser Verzicht der Demokraten auf die Demokratie verstört Murer und viele seiner Generation bis zur Illusionslosigkeit. Es entstehen lähmende Ängste.
Intelligente Subtilität
Die Feststellung ist leicht, die Schweiz sei politisch und gesellschaftlich in eine Grauzone geschlingert, blind für die Gefahr, in einer Schwarzzone zu enden. Leicht wäre es auch, dazu einen Thesenfilm, ein Pamphlet zu drehen. Als ungleich anspruchsvoller erweist es sich, die als diffuse Bedrohung erlebte Situation mit intelligenter Subtilität bildsprachlich zu formulieren.
Murer verdichtet seine rationalen und emotionalen Erfahrungen mit einer sprühenden Fantasie zu Sequenzen, die Jahre später als präzise Vorahnung der Wirklichkeit erkennbar wird. Mit dem Piratenradio «Eisberg» nimmt er den Angriff aufs SRG-Monopol vorweg und mit einem Instinktforscher die Konjunktur der Verschwörungstheoretiker.
Prognostisches Glanzstück ist eine die Schweiz in Panik versetzende Epidemie, die eine Krise auslöst, wie sie 1986 mit der Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl eintritt und jetzt mit Corona. Gleicherweise eindrücklich zeigen sich Murers seismographische Fähigkeiten mit der Vorwegnahme des seine Bürger ausspionierenden Fichenstaates und der weltweit Daten abschöpfenden Internetgiganten.
Linksliberale Einmischung
Von Hans Liechti packend schwarzweiss fotografiert und von Murer zum Zerreissen langsam inszeniert, zeigt der Film die Schweiz auf dem Weg zum Konformismus und zum Verlust des demokratischen Engagements. Nur einer bricht selbstbestimmt aus: Alfred wirft das gutbezahlte Mandat hin, die Belegschaft einer Waffenfabrik zu bespitzeln, und lächelt befreit über die maliziöse Abkanzelung seines Chefs – als Dieter Bührle nicht genannt, aber gemeint.
«Grauzone» ist ein Film über die Schweiz mit den Augen eines besorgt Kritischen, betroffen, auch zornig, jedoch souverän, mit Witz und Schalk. Hinter der Kamera stand ein linksliberaler Demokrat, der sich einmischt, das Publikum als mündig respektiert und es deshalb mit Zumutungen konfrontiert.
Beispielhaftes Dokument
«Grauzone» ist sowohl ein wichtiges zeithistorisches Dokument als auch ein bis heute bestechendes Beispiel für eine differenziert bohrende Auseinandersetzung mit der Schweiz.
Die über Tag und Zeit hinausreichende Botschaft lautet, die Demokratie wachsam und widerspruchsbereit zu leben, sich gegen staatliche und wirtschaftliche Übermacht zu wehren und Zivilcourage als erste Bürgerpflicht zu befolgen.
Was in der Kurzfassung trocken klingt, ist bei Fredi M. Murer ein hintergründig pfiffiger, raffiniert um die Ecken realisierter und an überraschenden Einfällen reicher Denk- und Brandfilm zur Lage der Nation. Seine Komplexität ist zusätzlich spannend, indem sie ein Labyrinth für Deutungsversuche öffnet.
Nach «Liebe und Zufall» 2014 schwor Murer, seinen letzten Film geliefert zu haben. Die Herausgabe der «Grauzone» als DVD ist etwas wie ein glücklicher Wortbruch, Er macht die Gratulation zu dem am 1. Oktober zu feiernden 80. Geburtstag noch freudiger.
«Grauzone» kann als DVD bei der Stiftung Trigon-Film, Ennetbaden, für CHF 24.— bezogen werden: