Es ist beklemmend, wenn man von fernem Geschützdonner aus dem schläfrigen Alltag gerissen wird – und feststellen muss, dass er so fern gar nicht ist. Eben noch hat man Reisepläne für einige Tage in Jammu gemacht – der Flug war gebucht – und schon hört man, dass der Luftraum über der Winter-Hauptstadt von Kaschmir gesperrt ist.
Zwei Kampfbomber abgeschossen – aber welche?
Von den Geschützen allein lassen sich die Bewohner dieser Region zwar nicht mehr aus dem Schlaf holen. Artilleriefeuer über die indisch-pakistanische Grenze hinweg gehört dort zum Alltag. Jammu liegt nicht allzu weit von der Line of Control („LoC“). Der alltagssprachliche Ausdruck sagt es deutlich: Die Grenze stellt die im Kriegsgeschehen verschiebbare Frontlinie dar.
Zum Kanonendonner kommen nun neue Geräusche: Flugzeuge im Tiefflug etwa, und zwar solche, die Jagd aufeinander machen. Bereits in den ersten Stunden des Mittwochs, am Tag nach der Zerstörung von Terror-Trainingsstätten in pakistanischem Hoheitsgebiet durch die indische Luftwaffe, wurden zwei Kampfbomber abgeschossen, eine indische Mirage 2000 und eine pakistanische F-16. Der indische Pilot konnte sich retten, geriet aber in pakistanische Gefangenschaft; vom andern Piloten weiss man nichts.
Behauptungen und Gegenbehauptungen
Doch war es wirklich ein pakistanischer Pilot und eine F-16? Oder waren zwei indische Flugzeuge abgestürzt, wie Pakistan dies behauptet? Auf jeden Fall bezeichnete Indien zwei seiner Piloten als „vermisst“. Und was war mit dem MI-15 Transport-Helikopter der Indian Air Force, der in Zentralkaschmir explodierte und sieben militärische Opfer forderte? War es ein Unglück, ein Sabotageakt oder der Treffer einer in Pakistan abgefeuerten Rakete?
Behauptungen und Gegenbehauptungen kommen in rascher Folge. Sie bestätigen das alte Sprichwort, dass in jedem Krieg die Wahrheit das erste Opfer ist. Und der virtuelle Geräuschteppich, der nun von den Social Media ausgerollt wird, ist womöglich noch lauter als Geschützdonner und Flugabwehr-Sirenen. In Indien wurde millionenfach ein Video der nächtlichen Kommandoaktion weitergereicht, von dem keineswegs gesichert ist, ob es digital hergestellt wurde.
Wetteifern um Zuschauerzahlen
Zum ersten Mal können Tweets, WhatsApp und Dutzende Austausch-Plattformen wie ShareChat eine kriegsähnliche Situation nutzen, in der Gerüchte und kontroverse Darstellungen ungehemmt hochschiessen. Sie drohen zu einem entfesselten Hetz-Instrument zu werden, das die Stimmung noch weiter eskalieren lässt.
Die Chat-Plattformen laden zudem die Schrei-Runden der TV-Kanäle herunter. In Indien wetteifern mehrere hundert Info-Kanäle um Zuschauerzahlen, indem sie sich gegenseitig in nationalistischer Rhetorik überbieten. Allein WhatsApp hat in Indien über 200 Millionen Abonnenten, und die editorischen Kontrollmechanismen sind völlig überfordert.
Modi im Wahlkampf-Modus
Die Regierungen sind ebenfalls zum ersten Mal mit diesem medialen Brandbeschleuniger konfrontiert. Sie mögen ihn sogar klammheimlich begrüssen, können aber deren Massenwirkung weder voraussagen noch kontrollieren.
In Delhi bleiben die offiziellen Verlautbarungen zwar relativ gemessen in ihrer Verurteilung Pakistans und der Rechtfertigung ihres eigenen Handelns. Aber Narendra Modi, bereits in Wahlkampf-Rage, verschärft die Tonlage wieder, wenn er „Vergeltung für jede vergossene Träne“ fordert. Er stellt sogar das Narrativ der langjährigen und beidseitigen Abschreckungsstrategie – keine Eskalation wegen der Gefahr einer nuklearen Apokalypse – in Frage. Die Zeit sei gekommen, rief er aus, Pakistans „nuklearen Bluff blosszustellen“.
In Indien noch lauter als in Pakistan
Zum ersten Mal im langjährigen gegenseitigen Bashing ist die Kriegstreiberei auf der indischen Seite diesmal lauter und virulenter als in Pakistan. Dies hat gewiss damit zu tun, dass Indien sich als Zielscheibe und Opfer einer nicht enden wollenden Terrorstrategie des Nachbarn sieht. Pakistan, daran zweifelt hier niemand, ist der Provokateur und gehört daher bestraft.
Premierminister Imran Khan dagegen gibt sich betont konziliant. Zwar glich seine erste Reaktion bis aufs Wort den Sprachschablonen, die seine Vorgänger bei früheren Terrorakten gebraucht hatten. „Wir werden handeln, sobald uns Indien handfeste Indizien vorlegt.“ Sie ernteten beim Nachbarn nur Spott und Hohn. „Eine Organisation mit zahlreichen Adressen in Pakistan bekennt sich zum Attentat vom 14. Februar“, argumentierte ein TV-Kommentator. „Sollte der pakistanische Staat nicht zuerst mal dort anklopfen?“
Imran Khans Versprechen
Es war jedoch der pakistanische Premierminister, der am Donnerstag die Eskalationsspirale zum ersten Mal anhielt und umdrehte. Er versprach, sein Land werde am Tag darauf den indischen Piloten über die Grenze stellen, dessen Flugzeug am Mittwoch auf pakistanischem Boden abgestürzt war.
Kein Zweifel, Islamabad sah sich zu dieser Geste guten Willens auch deshalb gezwungen, weil es auf dem diplomatischen Parkett fast vollständig isoliert ist. Selbst China vermied es, sich ostentativ hinter seinen Bündnispartner zu stellen. Beijing sprach von Indien und Pakistan als „zwei befreundeten Staaten“ und forderte beide zu Gesprächen auf. Dies veranlasste Frankreich, die internationale Ächtung der Jaish e-Mohammed und ihres Anführers Masood Azhar erneut vor den Sicherheitsrat zu bringen.
Wie Pakistans Generäle argumentieren
Allerdings hat Islamabad gelernt, mit Rügen aus anderen Hauptstädten umzugehen und sie zu ignorieren. Pakistan weiss von der Wichtigkeit seiner geopolitischen Lage und vom Interesse des Westens am politischen Status quo der Junta. Die Alternative, das reiben die Generäle den Diplomaten immer gern unter die Nase, könnte ein Terror-Regime mit dem Finger auf dem nuklearen Zündknopf sein.
So sieht es wohl auch die pakistanische Volksmehrheit. Diese wird nicht erst seit gestern mit Fake News gespeist. Anti-indische Propaganda ist Teil des medialen Mainstreams, und bildet inzwischen Teil des Curriculums, das pakistanischen Kindern bereits im Kindergarten serviert wird.
Vom indischen Geheimdienst inszeniert?
Es kann also durchaus sein, dass eine solide Mehrheit inzwischen glaubt, dass das Selbstmord-Attentat vom 14. Februar vom indischen Geheimdienst inszeniert wurde. Schliesslich finden in drei Monaten indische Parlamentswahlen statt, so das Argument, und das Aufflammen des religiös geprägten Nationalismus nützt doch nur Narendra Modi.
Die meisten würden wohl den Kopf schütteln über eine andere Lesart: Dass nämlich Pakistans Generäle lieber einen Heisssporn zum Gegner haben als einen Peacenik wie Rahul Gandhi; und dass sie deshalb der Jaish grünes Licht zur Ausführung des Terrorakts gaben.
In Indien gaben sich die Oppositionsparteien Mühe, angesichts der nationalen Herausforderung mit der Regierungskoalition die Ränge zu schliessen. Aber es gab durchaus Stimmen, die unter der Hand genau diesen Verdacht eines indisch fabrizierten Komplotts aussprachen.
„Die Katze aus dem Sack“
Selbst die Regierungspartei bekennt sich zu diesem Kalkül. Am Donnerstag sagte ein prominenter BJP-Politiker aus Südindien, im Bundesstaat Karnataka könne seine Partei eine grosse Mehrheit gewinnen, „dank dem Versprechen des Premierministers, Rache zu üben“. Er wurde zwar zurückgepfiffen, aber „die Katze“, so der Indian Express, „ist nun aus dem Sack“.
Modi selber nimmt jede Gelegenheit war, sein Image als Retter der Nation auszuschlachten. Sogar bei einer unpolitischen Preisverleihung für Naturwissenschafter sprach er rhetorisch gekonnt „von Pilot-Projekten in Labors, die dann auf Serienproduktion hochgefahren werden“. So sei es auch beim „kürzlichen realen Pilotprojekt“, fügte er in Anspielung auf die Gefangennahme des indischen Kampfpiloten fort. „Nun gilt es, dieses Projekt in die Tat umzusetzen.“