Allen Berichten nach ist die fast völlig zerstörte Stadt Ramadi zwar von den IS-Kämpfern befreit worden, jedoch ist sie immer noch nicht sicher genug, um der geflohenen Bevölkerung die Rückkehr zu erlauben. In vielen Vorstädten finden nach wie vor Kämpfe und Schiessereien statt. Von Wiederaufbau kann unter diesen Umständen noch nicht die Rede sein. Ganz abgesehen davon, dass im Irak die Gelder knapp geworden sind, seit der Ölpreis abgestürzt ist. Es ist keineswegs sicher, dass der Wiederaufbau finanziert werden kann.
Gegenoffensive mit altbewährten Methoden
Nach dem Verlust von Ramadi ist der IS in zwiefacher Hinsicht zur Gegenoffensive übergegangen. Selbstmordattentäter mit Autos voller Sprengstoff überfielen die Aussenposten, von denen aus die irakische Armee nach Ramadi vorgerückt war. Dort waren die weniger kampfgeübten Truppen zurückgeblieben, unter anderen Polizeirekruten, die sich in Ausbildung befanden. Dadurch vermochten die IS-Kämpfer Verwirrung zu stiften und hohe Verluste zu verursachen, bevor sie erneut in die Wüste entschwanden.
Die zweite Offensivwelle erreichte fast unmittelbar darauf die irakischen Städte, wo der IS in schiitischen Wohnvierteln Bomben-Attentate verübte. Sie trafen in Bagdad am vergangenen Dienstag eine Shopping Mall in einem schiitischen Viertel. Solche Einkaufszentren sind heute für viele Familien in Bagdad der einzige Ort, wo sie ausgehen können, weil die Strassen und Kaffees allzu gefährlich geworden sind. Die Anschläge forderten 18 Todesopfer und Dutzende von Verletzten. Ein weiterer Anschlag in dem schiitischen Stadteil Neu Bagdad traf einen Markt und liess fünf Tote und zwölf Verwundete zurück.
Provokationen in Diyala
Auch in der Provinz Diyala östlich von Bagdad gab es blutige Selbstmord-Anschläge mit zahleichen Toten. Diyala ist eine aus Schiiten und Sunniten gemischte Provinz, in der neben Arabern auch Kurden und Turkmenen leben. Sie wurde im Juni 2014 zu grossen Teilen vom IS überrannt, nachdem Mosul in die Hände des IS gefallen und die irakische Armee von dort geflohen war.
Damals flohen viele der Schiiten Diyala vor den sunnitischen Jihadisten, oder sie wurden von ihnen vertrieben. Später jedoch, im Verlauf der ersten Gegenoffensive aus Bagdad, die von schiitischen Milizen vorangetragen wurde, kam es umgekehrt zu Flucht und Vertreibungen von Sunniten. Auch Massaker an den sunnitischen Bevölkerungsteilen kamen vor. In einem besonders brutalen Fall wurden am 22. August 2014 angeblich mindestens 34 Sunniten in dem Dorf Imam Wais bei Baaquba (der Hauptstadt von Diyala) am Freitag beim Mittagsgebet überfallen und niedergeschossen. In einem anderen sunnitischen Dorf, Barwana, wurden am 28. Januar 2015 70 unbewaffnete Knaben und Männer von schiitischen Bewaffneten erschossen.
Die Fluchtbewegungen führten dazu, dass Diyala, das vor 2014 eine schiitische Mehrheit aufgewiesen hatte, dann mehrheitlich sunnitisch wurde, nur um 2015 wieder zu einer schiitischen Mehrheit zurückzukehren. Die Umschwünge in den Mehrheitsverhältnissen bedeuteten jedes Mal, dass Wohnhäuser und Äcker von Fliehenden in die Hände von neu einwandernden Angehörigen der Gegenkonfession übergingen.
In dieser vom Krieg besonders mitgenommenen Provinz liess der IS nun erneut Bomben hochgehen. In der zweiten Stadt der Provinz, Muqadiya, gab es schiitische Todesopfer; von 18 Toten und Dutzenden von Verwundeten ist die Rede. Schiitische Bewaffnete griffen zu Rachemassnahmen und steckten Moscheen sowie Siedlungen von Sunniten in Brand.
Solche Reaktionen sind ohne Zweifel genau das, was der IS anstrebt. Ein bedeutender Teil der Truppen, die Ramadi befreiten, waren Angehörige der militarisierten Polizeikräfte des irakischen Innenministerums. Die Regierung sah sich gezwungen, zwei Bataillone dieser Kräfte von Ramadi eilends nach Diyala zu senden, um zu versuchen, weitere Racheakte zu verhindern.
Erneut schiitisch-sunnitischer Bürgerkrieg?
Der sunnitisch-schiitische Untergrundkrieg der Jahre 2007 und 2008 in Bagdad und auch in Diyala, der Zehntausende von Opfern gefordert und Bagdad permanent in eine Stadt mit schiitischer Mehrheit verwandelt hatte, ist im Irak noch in aller Gedächtnis. Er wurde damals von Abu Musab provoziert, dem Vorläufer des heutigen IS-„Kalifen“ Bagdadi, mit dem Ziel, den Amerikanern das Regieren des von ihnen besetzten Iraks zu verunmöglichen. Der IS versucht nun offensichtlich eine vergleichbare Lage herbeizuführen und wendet die gleichen Mittel an wie seinerzeit Zarqawi, nämlich Selbstmord-Attentate und Massaker gegen Schiiten – und zwar so lange, bis diese gegen die Sunniten zurückschlagen. Was nun in Diyala erneut zu gelingen droht.
Ministerpräsident Haider al-Abadi ist persönlich nach der geprüften Stadt gereist, um zu versuchen, das drohende Unheil gegenseitiger Übergriffe aufzuhalten. Für den Augenblick brachte er sie zum Stillstand. Doch man muss damit rechnen, dass der IS neue Versuche unternehmen wird, unter der schiitischen Zivilbevölkerung Morde zu verüben – so viele und so brutal wie möglich, um die Langmut der Schiiten auf die Probe zu stellen. Sobald sie auf Sunniten zurückschlagen, profitiert der IS doppelt davon: Erstens wird die Regierung von Bagdad geschwächt und vom Krieg gegen den IS abgelenkt; zweitens sehen sich die irakischen Sunniten veranlasst oder gezwungen, beim IS Schutz gegen ihre schiitischen Feinde zu suchen.