Viele Wege der argentinischen Gegenwartsliteratur kreuzen sich im Werk des 1941 in Buenos Aires geborenen Romanciers Ricardo Piglia, der, wie viele seiner Kollegen, auch ein Literaturtheoretiker und einer der besten Literaturkritiker seines Landes ist. In einem seiner Essays bezeichnet Piglia Gewalt, körperliche Gewalt, als ein Leitmotiv argentinischer Literatur. Er hat das Motiv, in seinen Romanen, oft genug verwendet. Einer, der sein zu kurzes Leben der Denunziation von missbräuchlich, willkürlich und brutal angewandter Gewalt widmete, war Rodolfo Walsh. In einem 1973 von Piglia mit ihm geführten Interview erklärt Walsh, warum ihm der Roman nicht als die geeignete Form erscheint, um seine Kampf gegen Gewalt und für Gerechtigkeit zu dokumentieren. Wirksamer erscheint ihm der Tatsachenbericht und er begreift, dass auch er „eine Waffe hat. Die Schreibmaschine. Je nach dem, wie man sie benützt ist sie ein Fächer oder eine Pistole, und man kann mit der Schreibmaschine greifbare Resultate erzielen.“
Rodolfo Walsh, 1927 als Abkomme irischer Einwanderer in der Provinz Rio Negro geboren, war Journalist und Schriftsteller, schrieb Tatsachenberichte und Kriminalgeschichten, arbeitete eine Zeitlang in Havanna für die Presseagentur „Prensa latina“, für die auch sein Freund Gabriel García Marquez tätig war, und wurde 1977 während der Militärdiktatur von Sicherheitskräften ermordet. Walsh gehört zu den furchtlosesten und beeindruckendsten Journalisten und Schriftstellern der lateinamerikanischen Moderne. Dass er den Roman als eine bürgerliche Spätform bezeichnete, die zur Vermittlung kämpferischer Inhalte nicht (mehr) tauge und ausgedient habe, bleibt einer jener Irrtümer, denen ideologisch fixierte Autoren immer wieder verfallen – ohne der prosperierenden Gesundheit des Romans etwas anhaben zu können.
Wofür Walsh (wie später Truman Capote in den USA) aber den Beweis liefert, ist die Tatsache, dass es etwas Nichtfiktionales gibt, das dem erfundenen Roman zumindest ebenbürtig ist, möge man es Tatsachenbericht, Dokument, Zeugnis nennen. Freilich muss der so definierte, von der Fiktion unterschiedene Text stilistisch auf der Höhe eines qualitativ hochstehenden Romans stehen, um den Vergleich aushalten zu können. Das tut er bei Walsh. In fast allem, was er geschrieben hat. In atemberaubender und schmerzlicher Art zum Beispiel in einer grossen Anklageschrift, die der Autor in Form eines „offenen Briefes“ im März 1977, zum Jahrestag des Putsches, an die Militärjunta richtete. Dieser Brief, der in glasklarer Logik und in unheimlich anmutender Sachlichkeit die Verbrechen des Regimes aufzählt und die Folgen analysiert, kam einem selbst verfassten Todesurteil gleich, was Walsh durchaus bewusst war.
Der Zürcher Rotpunkt Verlag legt dieses Jahr zwei Bücher von Rodolfo Walsh vor. Der Band „Die Augen des Verräters“ vereint zehn im weiten Sinn als Krimis zu bezeichnende Erzählungen. Im anderen Band bekommen wir es mit einem lm spanischen Sprachbereich längst zum Klassiker avancierten Besteseller zu tun: „Das Massaker von San Martin“. Der österreichische Schriftsteller Erich Hackl, nebst vielem anderen ein ausgewiesener Kenner der jüngeren argentinischen Geschichte und Literatur, hat den erstmals Ende der 50er Jahre publizierten, inzwischen 38 mal wiederaufgelegten Text und die verschiedenen Kommentare, Einführungen, Vorworte Walshs übersetzt und mit einem Nachwort versehen. Eine Massarbei: die Hacklsche Uebetragung liest sich schnörkellos, klar und frisch, was auch Hauptmerkmale des Stils von Rodolfo Walsh sind. 1956, nachdem der populäre Präsident Juan Domingo Perón zum Rücktritt gezwungen worden war, gab es in Argentinien einer der notorischen Militärputschs. Walsh wurde zufälliger Zeuge einer Schiesserei, was wie eine Art von Initialzündung wirkte und ihn dazu veranlasste, ein monströses Verbrechen des neuen Regimes zu recherchieren. Was er 1957 zuerst als Artikelfolge, dann als Buch unter dem Titel „Operación masacre“ veröffentlichte, in der festen, wenn auch erfolglosen Absicht, damit eine Anklage gegen die Mörder zu erwirken, war die blutige Chronik eines Massakers. Im Juni 1956 hatten sich ein Dutzend Männer, zum Teil zivile Regimegegner, zum Teil zufällig anwesende, unpolitische Individuen in einer Privatwohnung in einem Vorort von Buenos Aires versammelt, um am Radio die Reportage über einen Boxkampf zu verfolgen. Die Polizei brach ein, verhaftete die Männer , fuhr sie auf eine Müllhalde, wo die vermeintlichen Terroristen erschossen wurden. Aber es starben nur fünf der Opfer. Den andern gelang die Flucht, was Walsh zu Ohren gekommen war. In einer langen, mit äusserster Hartnäckigkeit geführten Investigation spürte er die Überlebenden auf und liess sich von ihnen der Hergang des Massakers beschreiben.
Sein Bericht besticht durch Stringenz und Einfachheit. Was es zum Verständnis der unglaublichen Geschichte braucht, steht da. Was nicht geklärt werden konnte, wird offen gelassen. Spekulation, die über das Vorgefallene und die Beweggründe dafür hinausweisen würde, gibt es nicht. Die berichteten Tatsachen, so lässt sich hier wirklich sagen, sprechen für sich. Aber dieses Für-sich-Sprechen und die äusseren wie inneren Zusammenhänge des Gesprochenen herauszuholen aus den Beteiligten, aus der Handlung und aus den Schauplätzen, das eben bleibt die Kunst und die Leistung von Rodolfo Walsh. Es sei behauptet, dass dieses Stück Prosa in der Lektüre mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen immer noch packt, immer noch frisch wirkt. Und dazu auch noch prophetisch. Der dokumentierte grausame Gewaltexzess, die jenseits von Recht und Gesetz operierenden Militärs samt ihren Helfern, die hasserfüllten Reaktionen von Sympathisanten des Regimes in der Bevölkerung, die vergeblichen Versuche, Mörder und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen – das alles, von Walsh umsichtig erforscht und im Rahmen seiner Chronik in einen tödlichen Zusammenhang gebracht, das nimmt die wohl perverseste Militärdiktatur unter der Argentinien je gelitten hat voraus, diejenige von 1976–1983, deren Opfer der Autor selber wurde.