Wie funktioniert ein renommiertes Museum, heute? Man lässt es sich drei Stunden lang erzählen – und wird dabei nicht müde.
Zwölf Wochen in den Jahren 2011 und 2012 hat der 85-jährige amerikanische Dokumentarfilmer Frederick Wiseman in der Londoner „National Gallery“ verbracht, hat zugehört, angeschaut und gefilmt, was sich nur filmen lässt. Aus 170 Stunden Rohmaterial hat er in langen Prozessen einen Dreistünder geschnitten, der es in sich hat. Wer an bildender Kunst interessiert ist, wer Museen gern von innen erkundet, der darf sich diese Reise ins Magische und Mythische, in die Welt alter und neuer Meister, in die subtilen Geheimnisse des Restaurierens, in die leidigen Existenzkämpfe , die ein Museumsmanagment heute zu bestehen hat, nicht entgehen lassen. Die Reise unternimmt man im bequemen Kinosessel; sie verläuft mal abenteuerlich, mal kontemplativ und führt einen vom Mittelalter über die Renaisssance in die Napoleonszeit, von alten Altären über Caravaggio, Rembrandt, Rubens zu Turner und Pissarro.
Wiseman hat ein untrügliches Gefühl für Rhythmus und das erweist sich bei der Aufgabe, die er sich stellt - ein Stück Museumsrealität in möglichst vielen Facetten abzubilden - als entscheidend. Die einzelnen Einstellungen und Szenen dauern so lange wie sie nach dem Gefühl des Betrachters dauern müssen; sie korrespondieren miteinander, sind verfugt wie in einem Musikstück. Es gibt Motive, die in Variationen immer wiederkehren. Sie strukturieren das Geschehen und rhythmisieren es gleichzeitig. Inhaltlich schreitet der Film nicht fort, sondern er wird mit Hilfe von ein paar Grundfiguren ständig erweitert und reicher gemacht.
Ein paar Grundfiguren
Diese Grundfiguren sind einmal die Blicke, die ständig ausgetauscht werden, Blicke von der Leinwand in den Saal zu den Betrachtern, Blicke der an den Wänden hängenden Porträtierten. Und dann die Blicke zurück, die Blicke der Besucher auf die Bilder. Zum andern gibt es Geschichten über Geschichten. Sie werden zur Hauptsache von Museumsangestellten erzählt, die eine Schar von Besuchern vor ein Bild geführt haben und nun aufs Eloquenteste loslegen, das dargestellte Sujet ausloten, seine Geheimnisse aufdecken, das Thema über den Bildrahmen hinaus vergrössern, vertiefen, wobei sie vor wilden Spekulationen nicht zurückschrecken. Denn ein mit der Realität spielendes Bild, so wissen sie, kann nicht wie die Literatur so viel Zeit und Papier für die Beschreibung aufbringen, wie es eben braucht - ein Bild muss alles in einem Moment auf den Punkt bringen.
Es gibt eine besonders anrührende Szene im Film, in der das Geschichtenerzählen zur absoluten Notwendigkeit wird: dann nämlich, wenn eine der Erklärerinnen einer Gruppe von Blinden ein Bild von Camille Pissarro (eine Pariser Strassensicht im Abendlicht) nahezubringen versucht. Tastend und zuhörend eignet sich die Gruppe das Werk Pissarros an. Die Hände gleiten über Papierbögen, auf denen Elemente des Bildes in Reliefs wiedergegeben sind und dazu erzählt die Interpretin, was es zu sehen gäbe, welche Farben, welche Formen, welche Inhalte zusammenspielen und was für Wirkungen erzielt werden.
Eine andere Grundfigur des Museum, die im Film ausgiebig und faszinierend zur Geltung kommt ist das Restaurieren. Ein kleinräumiges, sehr behutsames Handwerk von grossem Einfluss, bestimmt es doch unsere Sicht auf ein altes Bild, das durch viele Hände gegangen ist, bis es in der Ausstellung hängt, die wir uns anschauen. Wie Chirurgen gehen die Restauratoren zur Sache, röntgen, untersuchen und reparieren beschädigte farbige Körper, waschen, hellen auf, tupfen, pinseln und benutzen für die Instandstellung der ihnen anvertrauten Kunstobjekte eine Vielzahl raffinierter Instrumente. Manchmal finden sie unter dem behandelten Bild ein anderes, übermaltes, und ergehen sich dann, wie ihre Geschichten erzählenden Kollegen, in Mutmassungen; aber im allgemeinen sind sie die Garanten für das Technische am malerischen Schöpfungsakt und wenn sie dieses Wissen so zu vermitteln verstehen, dass man es auch als Laie begreift, resultiert daraus ein elementares Kunstverständnis, das einem die Augen so gut öffnen kann wie der deutende Vortrag des Kunsthistorikers.
Hybrides Museum
Nun ist das Museum nicht nur ein Paradies für Kunstliebhaber sondern auch eine staatlich subventionierte Institution im öffentlichen Raum, abhängig von politischen Beschlüssen, die ihm ebenso gut nützen wie Schaden zufügen können. Dass in Zeiten zunehmender Wirtschaftskrisen und entsprechender Sparaktionen selbst ein Haus wie die National Gallery nicht mehr selbstverständlich darauf vertrauen darf, dass es von der öffentlichen Hand an Ressourcen so viel bekommt, wie es braucht, um den Grossbetrieb in Gang zu halten, liegt auf der Hand. Und tatsächlich musste die National Gallery in der Zeit, als Wiseman dort arbeitete, eine schmerzhafte Budgetkürzung verkraften.
Der Filmer zeigt das Hybride am heutigen Museumbetrieb deutlich auf. Hier das Schöne und Zeitlose, die reine Kunst – dort ein Grossunternehmen im Sparzwang. Direktor, Kuratoren, kaufmännische Kader, Werbespezialisten streiten sich vor der Kamera (aufs Zivilisierteste) über die zu treffenden Massnahmen. Wie lockt man noch mehr Besucher ins Haus? Wie weit soll man in Richtung Popularisierung gehen? Ist es zum Beispiel vorstellbar, bei einem gigantischen Sportanlass, dem Londoner Marathon, in geeigneter Form mitzumachen? Wie erkennt man die Wünsche des Publikums und wie kann oder soll man ihnen entsprechen? Mit Entlassungen und Flexibilisierungen der Arbeit, mit Auslagerungen von Jobs an eine private Sicherheitsfirma hat das Museum in den letzten Jahren versucht, sich Luft zu verschaffen – und dabei hat das Paradies seine hässlichen Seiten gezeigt. Natürlich konnten sich die Beschäftigten solche Attacken nicht gefallen lassen, sie haben anfangs Februar 2015 gestreikt, ein Teil des Museum war in dieser Zeit nicht zugänglich.
Aus dem Sklavenhandel finanziert
Die Reise durchs Museum sorgt immer wieder für Ueberraschungen, bleibt abwechslungsreich bis zuletzt. Eine Künstlerin belehrt die ihr anvertrauten Besucher darüber, dass die Anfänge der gezeigten Sammlungen ausschliesslich aus Geldern stammten, die mit Sklavenhandel verdient wurden. Eine andere sitzt vor einer Leinwand und versucht ein Bild und die Malerin desselben direkt in Sprache, in Poesie zu übersetzen; wieder andere lösen einen abgebildeten dramatischen Handlungsmoment in Tanzfiguren auf. Und um der Liebe Englands zum Skurrilen Genüge zu tun, dürfen wir ein paar Minuten lang einer Expertengruppe zuhören, die sich darüber streitet, ob die Noten, die man in verstümmelter Form auf dem Gemälde eines alten Meisters erkennen kann, zu einem richtigen Lied gehören oder nicht, ob der maestro musikalisch gewesen sei oder solches nur vorgetäuscht habe.
Zum Abschied fixiert Wiseman mit seiner Kamera noch einmal die besten Porträts, über die das Museum verfügt. Da blicken einen Augenpaare nachdenklich, spöttisch, kritisch, heiter und düster nach, während man die Säle und den Film verlässt.