Erdoğans Gegner hatten sich in den letzten Wochen in einen eigentlichen Siegesrausch versetzt. Grund dafür waren Meinungsumfragen, die einen Sturz des Langzeit-Autokraten prophezeiten. Jetzt sind die Erdoğan-Kritiker jäh aus ihrem Rausch erwacht. Ein Kommentar.
Das Ergebnis ist für die Opposition eine herbe Enttäuschung. Die meisten Umfragen hatten dem Herausforderer einen Vorsprung von mehreren Prozentpunkten vorausgesagt.
Nicht nur die Opposition ist enttäuscht: Auch in Kreisen der Nato, der amerikanischen Regierung und der EU hatte man unverhohlen gehofft, dass nun Erdoğan endlich vom Thron stürzen könnte. Und natürlich hoffte auch Schweden, das Nato-Mitglied werden möchte, was Erdoğan bisher verhindert hat.
Dass es der Quasi-Diktator nicht geschafft hat, schon im ersten Wahlgang gewählt zu werden, ist ein schwacher Trost. Eine Überraschung ist es nicht. Meinungsumfragen hatten schon seit Langem erklärt, dass wohl keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang das absolute Mehr erreichen würde.
Am Pfingstsonntag kommt es nun also zur Stichwahl. Doch auch wenn sich Kemal Kılıçdaroğlu, der Oppositionskandidat, zuversichtlich gibt: Er wird es schwer haben, die zweite Runde zu gewinnen.
Dass Erdoğan im ersten Wahlgang an diesem Sonntag fast 50 Prozent der Stimmen erreichte – fünf Prozent mehr als sein Herausforderer – erstaunt. Denn: Die Bilanz des seit zwanzig Jahren herrschenden Präsidenten ist wenig erfreulich. Er hat das Land wegen seiner völlig verfehlten Niedrigzinspolitik in eine schwere Wirtschaftskrise geritten. Die Lebenshaltungskosten haben viele Türkinnen und Türken an den Rand der Existenz gebracht. Zudem hat der Präsident immer mehr autoritäre, fast diktatorische Züge angenommen. Er führt sich zunehmend auf wie ein Sultan im Osmanischen Reich. Mit brutaler Härte geht Erdoğan gegen seine Gegner vor. Die grossen Medien hat er gleichgeschaltet, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gibt es am Bosporus und in Anatolien nicht mehr. Zudem hat er Zehntausende ins Gefängnis werfen lassen.
Und dieser Mann soll nun fast die Hälfte der Stimmen erhalten haben? Natürlich werden jetzt Berichte zirkulieren, die von Wahlbetrug sprechen. Da und dort wurden bereits Manipulationen aufgedeckt, doch ob diese reichen, die fast 50 Prozent von Erdoğan zu erklären, ist fraglich.
Warum hat der Präsident so überraschend gut abgeschnitten? Erdoğan gilt als genialer populistischer Wahlkämpfer. Sicher ist, dass er im Wahlkampf in den Medien omnipräsent war, während Kılıçdaroğlu nur selten zum Zug kam. Die Opposition wurde in die sozialen Medien verdrängt. Erdoğan spricht vor allem die religiöse Mittel- und Unterschicht an, die offenbar standhaft zu ihm hält – Wirtschaftskrise hin oder her.
Viele nationalistische Türkinnen und Türken sind stolz darauf, dass Erdoğan auf dem internationalen Parkett sehr präsent ist. Im Ukraine-Krieg spielt er medienwirksam ein Doppelspiel zwischen Russland und dem Westen. Er ist der einzige Staatschef eines Nato-Landes, der gute Beziehungen zu Putin pflegt. Er verurteilte den Einmarsch Russlands in die Ukraine und leistete der ukrainischen Regierung Hilfe, weigerte sich aber, sich den westlichen Sanktionen gegen Russland anzuschliessen. Gemeinsam mit der Uno war es ihm gelungen, ein Abkommen über Getreideexporte zwischen der Ukraine und Russland auszuhandeln. So konnte eine weltweite Nahrungsmittelkrise zumindest vorerst verhindert werden. Auch sein Veto gegen einen Nato-Beitritt Schwedens brachten ihn in die Schlagzeilen.
Erdoğan gilt als Macher, als Draufgänger, als Spalter, als Egomanie, während seine Anhängerinnen und Anhänger den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu als «netten Onkel» bezeichneten. In der heutigen geopolitisch aufgewühlten Zeit brauche es eine harte Hand, sagen sie.
Der oppositionelle Kılıçdaroğlu geht als Underdog in die Stichwahl. Beobachter vermuten, dass er im ersten Wahlgang sein Wählerpotential ausgeschöpft hat. In fast euphorischer Hochstimmung hatte die Opposition endlich die Möglichkeit gesehen, Erdoğan zu stürzen. Die reale Aussicht, einen Machtwechsel zu erzielen, haben viele Türkinnen und Türken, die sich in früheren Jahren lethargisch dem Erdoğan-Schicksal hingaben, ermuntert, jetzt doch zu den Urnen zu gehen, weil ein Sieg zum Greifen nahe schien. Die Wahlbeteiligung war extrem hoch. Doch jetzt, so befürchten auch Oppositionskreise, können zusätzliche Erdoğan-Gegner für den zweiten Wahlgang nur noch schwer mobilisiert werden, was dem Präsidenten in die Hände spielt.
Entscheidend könnte auch das Stimmenpotential von Sinan Oğan sein. Seine Splitterpartei «Ata İttifakı» hatte im ersten Wahl überraschend mehr als 5 Prozent der Stimmen erreicht. Oğan könnte zum Königsmacher werden. Er war früher Mitglied der rechtsextremen, ultranationalistischen MHP, wurde dann aber aus der Partei ausgeschlossen –, aber ein Ultranationalist ist er noch immer. Für wen geben diese 5 Prozent in der Stichwahl die Stimme ab? Eher für Erdoğan.
Doch selbst wenn Kılıçdaroğlu die Stichwahl um die Präsidentschaft gewänne, wäre es ihm kaum möglich, die Türkei wieder in eine funktionierende parlamentarische Republik zu verwandeln und das Präsidialsystem abzuschaffen. Denn: Im Parlament verfügt Erdoğans AKP zusammen mit seinen Verbündeten offenbar über eine Mehrheit.
Nichts ist entschieden, aber Erdoğan hat grosse Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Und dann? Wird er, wie viele befürchten, die Türkei endgültig in eine Ein-Mann-Diktatur verwandeln und noch rigoroser gegen seine Gegner vorgehen? Eine Wiederwahl Erdoğans wäre auch ein Schlag für Tausende politischer Gefangenen, die gehofft hatten, eine Niederlage des Präsidenten würde ihnen die Gefängnistore öffnen.