Gewinnt der pro-westliche Kemal Kılıçdaroğlu die Wahlen? Wird der autoritäre Langzeit-Herrscher Recep Tayyip Erdoğan vom Thron gestossen? Die Wahlen an diesem Sonntag sind nicht nur für die Türkei, sondern auch geopolitisch von allergrösster Wichtigkeit. Eine Auslegeordnung.
Bei den Wahlen an diesem Sonntag treffen zwei Welten aufeinander. Herausgefordert wird Erdoğan von Kemal Kılıçdaroğlu, dem es gelungen ist, ein oppositionelles Sechserbündnis zu zimmern.
- Kılıçdaroğlu steht der gemässigten eher linken CHP-Partei vor. Er vertritt vorwiegend die säkularen Türkinnen und Türken der urbanen Zentren – und die Jungen.
- Erdoğan spricht vor allem die frommen Muslime, die ärmeren Schichten, die Landbevölkerung, die anatolische Mittelschicht und die türkischen Ultranationalisten an.
Wichtig für die Türkei
Würde Erdoğan wieder gewinnen, könnte er seine Ein-Mann-Herrschaft weiter ausbauen. Viele befürchten, dass er die Opposition auslöschen möchte und eine Art Diktatur errichtet.
Würde das Oppositionsbündnis unter Kılıçdaroğlu gewinnen, könnte die Türkei wieder eine echte, pro-westliche parlamentarische Republik werden.
Geopolitisch wichtig
Kılıçdaroğlu will sein Land stärker im Westen verankern und die Beziehungen zur Nato und der EU ausbauen. Erdoğan hingegen will die Türkei näher an Russland und China heranführen. Er pflegt als einer der wenigen Staatschefs eine fast freundschaftliche Beziehung zu Putin.
Wie spricht man Kılıçdaroğlu aus?
Der Name von Kılıçdaroğlu ist für nicht Türkisch sprechende Menschen ein eigentlicher Zungenbrecher. Wie spricht man den Namen aus? Eine in der Schweiz praktizierende türkischstämmige Ärztin und Joural21-Leserin hilft uns weiter. Hören Sie! Kilitsch-dar-olu
Umfragen
Die meisten Umfragen sehen Kılıçdaroğlu im Vorteil. Im Durchschnitt aller Erhebungen liegt er um über 5 Prozentpunkte vor Erdoğan. Zudem sagen nur 8 von 23 Instituten einen Sieg von Erdoğan voraus. Trotzdem wird ein enges Rennen erwartet, weil viele den Umfragen nicht trauen. Die letzten Befragungen wurden Anfang Mai durchgeführt. Zehn Tage vor den Wahlen dürfen keine Ergebnisse von Erhebungen mehr veröffentlicht werden.
Obwohl Kılıçdaroğlu in den meisten Umfragen vorne liegt, sind Beobachter vorsichtig mit Prognosen – auch deshalb, weil Erdoğan als ausgezeichneter Wahlkämpfer gilt. Er hat seine Kampagne in den letzten Tagen stark intensiviert und seinen Gegner auf rüde Weise persönlich verunglimpft.
Stichwahl
Laut den meisten Meinungsumfragen könnten am Sonntag weder Erdoğan und sein Bündnis noch die geeinte Opposition auf die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen. Eine Stichwahl würde in diesem Fall am Pfingstsonntag, 28. Mai, stattfinden. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 hatte sich Amtsinhaber Erdoğan in der ersten Runde mit 52,6 Prozent der Stimmen durchsetzen können.
Hohe Wahlbeteiligung
Auch Türkinnen und Türken im Ausland können wählen. In keinem anderen Land gibt es so viele wahlberechtigte Türkinnen und Türken wie in Deutschland. Dort zeichnet sich eine extrem hohe Wahlbeteiligung ab. Im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren liegt sie bisher um 19 Prozent höher, was die Wichtigkeit dieses Urnengangs illustriert. 2018 erhielt Erdoğan in Deutschland am meisten Stimmen. Laut türkischen Beobachtern in Deutschland könnte dies jetzt anders sein.
In der Schweiz leben etwa 70’000 Menschen mit türkischem Pass.
Erste Ergebnisse
Erste Hinweise, sogenannte Exit-Polls, werden am Sonntagabend ab 19.00 Uhr Schweizer Zeit erwartet. Da ein knappes Ergebnis erwartet wird, sind diese ersten Resultate möglicherweise wenig aufschlussreich.
Wahlbetrug?
Oppositionelle Kreise befürchten, dass Erdoğan die Wahlen manipulieren wird. Kılıçdaroğlu erklärte, dass über 200’000 Wahlbeobachter, unter anderem Anwälte und Juristen, in den Wahllokalen stationiert würden.
Aufwiegelung à la Trump?
Ausländische Beobachter und Oppositionskreise schliessen nicht aus, dass Erdoğan eine Niederlage nicht anerkennen würde. Die Gefahr bestehe, dass er im Falle einer Abwahl von Wahlbetrug sprechen würde und seine Anhänger – à la Trump – zu einem Sturm gegen die Sieger aufhetzen könnte. Unter seinen Fans befinden sich viele gewaltbereite Elemente. Erdoğans Innenminister hatte bereits davon gesprochen, dass «der Westen» die Wahlen manipulieren könnte.
Recep Tayyip Erdoğan
Erdoğan ist seit über 20 Jahren an der Macht, zuerst als Ministerpräsident und seit 2014 als Staatspräsident. 2017 liess er sich in einer Volksabstimmung zum fast unbegrenzten Herrscher küren. In einem Verfassungsreferendum war das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft und das Präsidialsystem eingeführt worden. Erdoğan wurde somit Staatspräsident und Regierungschef in einer Person.
Erdoğans Verdienste
Erdoğan bescherte der Türkei zu Beginn des Jahrtausends ein Wirtschaftswunder. Er reformierte die Wirtschaft und investierte in das Gesundheitswesen. Aus- und inländische Kapitalgeber investierten 400 Milliarden Euro. Die Wirtschaft wuchs um 9 Prozent. Man sprach vom «anatolischen Tiger».
Viele Türkinnen und Türken bewundern Erdoğan noch immer wegen des von ihm eingeleiteten Wirtschaftswachstums (das inzwischen jäh zu Ende ging). Auch seine ständige Präsenz auf der internationalen Bühne (Gespräche mit dem Westen und mit Putin, Intervention im nördlichen Syrien, Vermittler im Getreideabkommen, Opposition gegen den Nato-Beitritt Schwedens etc.) erfüllt viele seiner Fans mit Stolz.
Schwere Wirtschaftskrise
Erdoğans autoritäre und repressive Politik hat Investoren abgeschreckt und das Land in eine schwere Wirtschaftskrise geführt. Seine Niedrigzinspolitik hat die Krise verschärft. Heute fehlt Kapital für neue Projekte. Die Preise in der Türkei für Lebensmittel, Wasser und Strom sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Inflation beträgt in der Türkei 50 Prozent, nur Argentinien steht noch schlechter da. Die türkische Währung, die Lira, hat innerhalb von zwei Jahren die Hälfte ihres Wertes verloren. Die Zentralbank hat 2022 Devisen im Wert von 100 Milliarden Dollar verkauft, um die Lira zu stützen. Wenige Wochen vor den Wahlen hat Erdoğan – aus wahltaktischen Grünen – den Mindestlohn um über die Hälfte erhöht. Die Löhne für Beamte stiegen um einen Drittel.
Autoritäre, diktatorische Politik
Erdoğan schränkte die Meinungs- und Pressefreiheit radikal ein. Kritische Journalisten wurden eingeschüchtert und ins Gefängnis gesteckt. Immer wieder ordnete er eine Verhaftungswelle an, die Zehntausende ins Gefängnis brachten, unter anderem Journalisten, Anwälte, Politiker, Richter und hohe Militärs, unter anderem Admirale. Immer wieder wurde das Internet gesperrt, unter anderem auch Wikipedia. Den Völkermord an den Armeniern verneint er.
«Volksallianz»
Erdoğan tritt mit einem Bündnis namens «Volksallianz» an. Dieser gehören neben seiner islamisch-konservativen AKP die ultranationalistischen MHP, die nationalistisch-religiösen BBP sowie die islamistische YRP an.
AKP
Erdoğans rechtspopulistische Partei, die AKP («Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung») wurde 2001 gegründet und ist zur Zeit die stärkste Partei im Parlament. Nach eigenen Angaben ist sie «konservativ, demokratisch». Mit Hilfe der AKP hat Erdoğan das einst säkulare Land erheblich «re-islamisiert». Die AKP ist vor allem die Partei der religiösen Landbevölkerung. Erdoğan gab frommen Musliminnen und Muslimen mehr Rechte und förderte im asiatischen Teil der Türkei eine religiöse Mittelschicht. Viele AKP-Anhängerinnen und -Anhänger betrachten die Opposition unter Kemal Kılıçdaroğlu als religionsfeindlich.
Weg von der Religiosität
Gemäss Umfragen bezeichnen sich nur noch die Hälfte der Türkinnen und Türken als religiös. Nur noch 18 Prozent der unter 25-Jährigen wollen für die AKP stimmen. Immer mehr Junge sind global vernetzt.
Die Ultranationalisten
Zu Erdoğans Bündnis gehört die MHP, die rechtsextreme, ultranationalistische «Partei der Nationalen Bewegung». Sie ist die Heimat der ultranationalistischen «Ülkücüler»-Bewegung. Ihre Mitglieder nennen sich Idealisten. In Deutschland ist die Gruppe unter dem Namen «Graue Wölfe» bekannt, die vom Verfassungsschutz observiert wird. Ülkücüler kämpft gegen viele: gegen die Christen, die Juden, die Amerikaner, die Kommunisten, die Freimaurer, die Armenier, die Griechen und die meisten Kurden.
Aus wahltaktischen Gründen machte der eher linke Kiliçdaroğlu den rechtsextremen Ultranationalisten einige Avancen. «Eure Partei ist die kemalistisch-sozialdemokratische CHP», erklärte er.
Kemal Kılıçdaroğlu
Der 74-Jährige ist Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, der grössten Oppositionspartei im Parlament. Ihm gelang es, dass die meisten Oppositionsparteien geeint gegen Erdoğan antreten. Kılıçdaroğlu ist westlich orientiert und gilt als ausgleichend und nicht polarisierend.
Kürzlich hat er sich als Alevit geoutet, was in der Türkei viel Erstaunen ausgelöst hat. Die meisten der 85 Millionen Türkinnen und Türken sind Sunniten. Die Zahl der Aleviten wird auf 25 Millionen geschätzt. Die Aleviten gehen nicht in die Moschee und pilgern nicht nach Mekka; viele Frauen tragen kein Kopftuch.
Im Oppositionsbündnis war Kılıçdaroğlu nicht nur beliebt. 2016 stimmte er für die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten und lieferte damit Dutzende an den Pranger und ins Gefängnis. Seinen Schritt bereute er nachträglich öffentlich. Zu seinen Stellvertretern hat er den beliebten Erdoğan-kritischen Bürgermeister von Istanbul und Ankara bestimmt. Kılıçdaroğlu beruft sich auf die säkulare Politik des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.
CHP
Die CHP, die sozialdemokratische «Republikanische Volkspartei», war von Staatsgründer Atatürk gegründet worden und ist die älteste Partei in der Türkei. Ihre Wählerbasis besteht vor allem aus säkularen, religiös liberal eingestellten Türkinnen und Türken. Viele stammen aus der westlich orientierten Ober- und Mittelschicht. Auch Junge sowie Studenten und Studentinnen wählen vorwiegend die CHP. Die Partei ist auch die Machtbasis der Aleviten, zu denen Oppositionsführer Kılıçdaroğlu gehört. Aufsehen erregte die Partei, als sie im März 2019 die Bürgermeisterwahlen in Istanbul, Ankara und Antalya gewann.
Der «Sechsertisch»
Kılıçdaroğlu ist es gelungen, erstmals ein Sechsbündnis gegen Erdoğan zu schmieden. Diese Oppositions-Allianz, «Sechsertisch» genannt, besteht – neben der sozialdemokratischen CHP – aus fünf teils sehr rechtsgerichteten Oppositionsparteien, unter anderem der national-laizistischen Iyi-Partei von Meral Akşener, die 1996 und 1997 als erste Frau in der Türkei Innenministerin war.
Weiter zum ideologisch sehr heterogenen Bündnis gehören DEVA, GP, DP und SP. Sollte Kılıçdaroğlu gewinnen, würde das Regieren mit diesem zusammengewürfelten Haufen sicher nicht einfach werden. Diese von manchen prophezeite politische Unsicherheit könnte Erdoğan in die Hände spielen.
Die Kurden
Nicht zum Sechserbündnis gehören die Kurden, gegen die viele in der Türkei ein Ressentiment haben, das von Erdoğan geschürt wird. Doch Beobachter betonen: Ohne die Kurden gewinnt man keine Wahl. Sie haben sich bewusst nicht für den Sechsertisch empfohlen, um damit keine Kurden-kritische Wähler abzuschrecken. Sie haben auch keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, doch es gilt als sicher, dass die Mehrheit von ihnen nicht für Erdoğan stimmen wird. Das weiss auch Kılıçdaroğlu, der sich um ihre Stimmen bemüht.
Ince zieht Kandidatur zurück
Drei Tage vor der Wahl hat der türkische Oppositionspolitiker Muharrem Ince seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl zurückgezogen. Das erhöht die Chancen von Kemal Kılıçdaroğlu. Ince gehörte ursprünglich der CHP von Kılıçdaroğlu an, für die er 2018 als Präsidentschaftskandidat antrat. Nach seiner Niederlage verliess er die Partei im Streit und gründete seine eigene. Nach Umfragen wäre Ince auf wenige wichtige Prozentpunkte gekommen, die jetzt Kılıçdaroğlu zugute kommen könnten.
Erdbeben und die Folgen
Das Erdbeben vom vergangenen 6. Februar hat allein in der Türkei 52’000 Tote gefordert. Zwei Millionen Menschen sind obdachlos. Die Hilfe an die Überlebenden und der Wiederaufbau kommen kaum voran, was Erdoğan Stimmen kosten könnte. Baufirmen, von den viele im Dunstkreis der AKP stehen, wird vorgeworfen, Häuser nicht wie vorgeschrieben erdbebensicher gebaut zu haben.
100 Jahre republikanische Türkei
Im kommenden Herbst feiert die moderne, aus dem osmanischen Reich hervorgegangene Türkei ihr hundertjähriges Bestehen. Mustafa Kemal Atatürk hatte am 29. Oktober 1923 die republikanische Türkei ausgerufen und blieb bis zu seinem Tod deren erster Präsident. Er öffnete die Republik gegen Westen, führte tiefgreifende Gesellschaftsreformen durch und verwandelte die Türkei in einen säkularen Staat. Frauen erhielten das Wahlrecht, das Schweizer Zivilrecht ersetzte die am Koran inspirierte Rechtssprechung. Gegen Ende seines Lebens nahm Atatürk immer mehr autoritäre und diktatorische Züge an. Trotzdem wird er heute in weiten Kreisen personenkultartig verehrt. Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP hofft, dass sie am 23. Oktober, während der grossen Geburtstagsfeier der Republik, an der Macht sein wird.