Geht heute die Ära des türkischen Quasi-Diktators zu Ende? Erdoğans Gegner sind fest davon überzeugt. In den meisten Umfragen liegt der pro-westliche Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğu (im Bild) leicht vorn. Doch es sei gewarnt, den Langzeit-Präsidenten schon abzuschreiben. Erdoğans Wiederwahl ist nicht ausgeschlossen.
Gemäss den meisten Umfragen liegt der 74-jährige Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu vorn, und zwar, je nach Umfrage, um ein bis fünf Prozent. Es gibt allerdings auch einige Erhebungen, die Erdoğan als Sieger prophezeien.
Kemal Kılıçdaroğlu steht der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP (Republikanische Volkspartei) vor. Er gilt im Gegensatz zu Erdoğan als nicht polarisierend, geht auch auf seine Gegner zu und sucht Koalitionen.
Drei Tage vor der heutigen Wahl hatte ein dritter Kandidat, von dem im Ausland kaum jemand sprach, seine Kandidatur zurückgezogen. Es handelt sich um Muharrem Ince. Er war 2018 Kandidat der CHP, erzielte ein bescheidenes Ergebnis, zerstritt sich dann mit Kılıçdaroğlu und gründete eine eigene Partei, für die er antrat. In Umfragen erzielte er zuletzt noch 2 bis 3 Prozent. Mit seinem jetzigen Rücktritt wollte er sich nicht dem Vorwurf aussetzen, der Opposition im Kampf gegen Erdoğan einige wichtige Prozentpunkte abgenommen zu haben.
Dass er sich jetzt aus dem Rennen nahm, stärkt Kılıçdaroğlu, denn Muharrem Inces Anhänger werden sicher nicht Erdoğan wählen. Allerdings muss diese Unterstützung relativiert werden. Viele Türkinnen und Türken, vor allem auch jene im Ausland, haben bereits gewählt. Was geschieht mit den Stimmen, die für Ince abgegeben wurden? Sie kommen nicht automatisch Kılıçdaroğlu zugute.
Trotzdem: Viele der wenigen Türkinnen und Türken, die für Ince gestimmt hätten, werden heute, am Wahltag, wohl für Kılıçdaroğlu stimmen, denn eigentlich ist Ince – im Geiste – immer noch ein Kind der CHP.
Doch noch hat Erdoğan nicht verloren. Er gilt als begnadeter Wahlkämpfer. In den letzten Tagen hat er seine Kampagne radikal intensiviert. Zehn Tage vor den Wahlen durften keine Umfragen mehr veröffentlicht werden. Hat Erdoğan in dieser Zeit durch seine sehr präsenten Auftritte Boden gutgemacht und Kılıçdaroğlu gar überholt? Das Ergebnis wird es zeigen.
Eine Unsicherheit besteht auch darin, dass nicht alle Kurden, auf die die Opposition baut, Anhängerinnen und Anhänger von Kılıçdaroğlu sind. Kılıçdaroğlu hatte erklärt, dass er Erdoğans harte Politik gegenüber der militanten kurdischen PKK weiterführen würde.
Unklar ist auch, wie sich Kılıçdaroğlus Bekenntnis, ein Alevit zu sein, auf das Ergebnis auswirkt. Die meisten der 85 Millionen Türken sind Sunniten. Die Aleviten sind eine 25-Millionen-Minderheit. Sein Outing könnte ihm wegen seiner Offenheit allerdings auch Stimmen eintragen.
Ein Vorteil von Erdoğan war auch, dass er in den fast gleichgeschalteten türkischen Medien viel präsenter war als sein Gegenspieler. Erdoğan hatte in den letzten Jahren oppositionelle Medien zum Schweigen gebracht.
Oppositionelle fürchten auch, dass sich russische Hacker in den Wahlkampf eingemischt und Stimmung für Erdoğan gemacht haben.
Erdoğans Partei, die AKP, hat in den letzten Tagen einen schmutzigen Wahlkampf geführt. Kılıçdaroğlu wurde als schwerer Alkoholiker gebrandmarkt und sogar als Pädophiler vorgeführt. Wirkt sich das auf das Ergebnis aus?
Erdoğans grosses Handicap war, dass er sein Land in eine schlimme Wirtschaftskrise geritten hat. Die Inflation liegt bei fast 50 Prozent. Der Lebensstandard der meisten Türken und Türkinnen ist in den letzten Jahren gesunken. Das liegt auch an der weltfremden Wirtschafts- und Zinspolitik Erdoğans. Zudem sind immer mehr Türken mit seiner Quasi-Diktatur nicht einverstanden. Er hatte Zehntausende Oppositionelle ins Gefängnis geworfen, Meinungsfreiheit gibt es in dem Land nicht mehr. Er führt sich auf wie ein Sultan im Osmanischen Reich.
Ob er heute die Quittung für seine verfehlte Wirtschaftspolitik, sein brutales Vorgehen gegen Oppositionelle, seine autoritären Allüren und sein überhebliches Auftreten erhält, wird die Nacht auf Montag zeigen. Erste, vermutlich noch nicht aussagekräftige Ergebnisse, sogenannte Exit Polls, sollen ab 19.00 Uhr Schweizer Zeit veröffentlicht werden.
Erhält keiner der beiden Kandidaten das absolute Mehr, findet am Pfingstsonntag die Stichwahl statt.
Ob Erdoğan eine Niederlage akzeptieren würde, ist längst nicht sicher, obwohl er am Samstag erklärte, er würde es tun. Oder würde er seine teils gewaltbereiten Anhängerinnen und Anhänger – à la Trump – zu einem Sturm auf die Sieger aufwiegeln? Würde er versuchen, die Wahlen vom Verfassungsgericht annullieren und wiederholen zu lassen? Affaire à suivre.
(Journal21/hh)