Der Kibbutznik Ran ist 37 Jahre alt. Er kann sich noch gut an die Zeiten erinnern, als junge ausländische Volunteers in den Kibbutz Shfayim kamen, um dort ein paar Wochen zu wohnen und zu arbeiten. „Damals kamen sogar Freiwillige aus dem Iran nach Shfayim. Das war noch in den Zeiten des Schah, also bevor die Ayatollahs an die Macht kamen. Vor allem an eine bestimmte Iranerin erinnere ich mich sehr gut. Sie war wunderschön. Wirklich wunderschön!“ Ran zündet sich eine Zigarette an und lächelt. „Auch aus der Türkei kamen Volunteers zu uns. Aus ganz Europa. Aus der ganzen Welt! Ich bedauere sehr, dass die Zeit der Volunteers in Shfayim vorbei ist.“
Ran ist braungebrannt und kräftig. Und etwas traurig. Nicht nur wegen der verschwundenen Volunteer-Mädchen, sondern vor allem wegen der Entscheidung des Kibbutz Shfayim, kein „richtiger“ Kibbutz mehr sein zu wollen.
Vom Ideal-Typus des Israeli zum Anachronismus
Jahrzehnte lang symbolisierte der sozialistische Bauer das Idealbild des Israeli. Nirgendwo sonst in der Welt wurde der auf Freiwilligkeit und Gleichheit basierende Sozialismus verwirklicht, nirgendwo sonst repräsentierten Kommunarden den politischen Mainstream einer Gesellschaft. Doch diese Zeit ist heute endgültig vorbei. Und die Idee des Sozialismus, der Traum von einer anarchistisch-libertären Gesellschaft, ist während der letzten Jahre sogar in vielen Kibbutzim zum Anachronismus geworden. „Mit der Zeit“, erzählt Ran, „kamen immer mehr Leute von außen in unseren Kibbutz, neue Ehepartner, aber auch Flüchtlinge. Und diese Leute kamen nicht etwa aus ideologischen Gründen, sondern wegen der Lebensqualität hierhin.“
Der Kibbutz ist auf Land erbaut worden, dass einst von arabischen Feudalherren gekauft wurde und dessen Verpachtung den Kibbutzniks sehr hohe Gewinne garantiert. Mitunter entschieden sich Bewerber auch nur deswegen für Shfayim, weil sie den Kibbutz ihre Rechnung für den Zahnersatz bezahlen lassen wollten.
„Es ist ja nicht so“, sagt Ran, „dass der Kibbutz den Sozialismus vernachlässigt hätte, nein, es ist einfach so, dass die Leute auf den Sozialismus verzichten möchten! Den meisten Menschen hier ist weniger wichtig, dass es allen im Kibbutz gut geht, sie wollen vor allem dass es ihnen selbst gut geht. Das ist traurig.“
Ein Kibbutz wickelt sich ab
Der Kibbutz Shfayim, eine halbe Stunde von Tel Aviv am Meer gelegen, hat sich selbst abgewickelt. Vieles von dem, was früher der Kibbutz regelte und bezahlte, wird nun dem Einzelnen und den Familien aufgebürdet. So werden die Kosten für Bildung und Gesundheitsvorsorge jetzt nur noch zum Teil vom Kibbutz übernommen.
„Dieser Wechsel ist wirklich nicht einfach“, erklärt Ran und seufzt. „Wir haben es hier ja mit Leuten zu tun, die nie in ihrem Leben Rechnungen bezahlen mussten, die gar nicht wissen was ein Bankkonto ist, die immer wussten, dass sie stets alles bekommen was sie brauchen. Also müssen wir ihnen jetzt beibringen, wie sie diese Dinge selbst regeln. Das ist nicht einfach, besonders nicht für die ältere Generation, die sich an das Leben von frührer gewöhnt hat. Auf einmal müssen sie sich um ihre Pension kümmern, müssen Rechnungen bezahlen.“
Zäune im Kibbutz
Dass sich der Kibbutz Shfayim jetzt für die teilweise Privatisierung entschlossen hat, ist erstaunlich. Denn auch in der Kibbutzbewegung spricht sich allmählich herum, dass Privatisierungen manchen Kibbutznik wohlhabend, doch andere Kibbutzniks verarmen lassen. Andererseits zeigt die Geschichte der Kibbutzbewegung auch, dass nur Sozialisten den Sozialismus verwirklichen können. Und die Sozialisten sind im reichen Kibbutz Shfayim zur kleinen radikalen Minderheit geworden.
„Heute haben viele Kibbutzniks Zäune errichtet“, erzählt Ran. „Es gibt kaum noch offene, große Rasenflächen. Manche Leute versuchen so viel Grund und Boden wie möglich an sich zu reißen. Sie wollen nicht, dass der Nachbar ihren Garten betritt, oder dass er auch nur sieht, was sie im Garten machen. Nicht alle hier sind so. Aber sehr viele. Und im dem Moment wo der Nachbar eine Grenze zieht, ist das auch deine Grenze. Und was willst du dann machen? Du kannst dich beschweren oder du kannst es akzeptieren. Diese Zäune symbolisieren meiner Meinung nach mehr als alles andere die zunehmende Privatisierung im Kibbutz.“
Unbeugsame gallische Dörfer
Immerhin gibt es für Kibbutzniks wie Ran noch stets die Möglichkeit, in einen jener Kibbutzim zu umzuziehen, deren Bewohner sich gegen den kapitalistischen Zeitgeist stemmen.
Rund ein Viertel der israelischen Kibbutzim sind noch „richtige“ Kibbutzim. Sie sind die letzten „gallischen Dörfer“ Israels. So wie zum Beispiel der Kibbutz Mishmar Ha-Emek, im grünen Norden des Landes, im Jezreel-Tal, gelegen.
Mishmar Ha-Emek ist fast so alt wie die Kibbutzbewegung und der Kibbutznik Eitan hat die Geschichte seiner Siedlung fast von Beginn an miterlebt. Der große, kräftige Mann trägt ein blaues Arbeitshemd, die traditionelle Tracht der israelischen Arbeiterbewegung. Er sitzt im großen Speisesaal des Kibbutz, kaut langsam und bedächtig und unterhält sich mit anderen Oldtimern der Siedlung.
Im Gegensatz zum Speisesaal von Shfayim muss in Mishmar Ha-Emek niemand eine Kreditkarte zücken, wenn er essen möchte. In Mishmar Ha-Emek ist die Welt noch in Ordnung. Eitan passt allerdings genau auf, an welchen Tisch er sich setzt, denn sonst kann es ihm passieren, dass ihm gehörig der Appetit vergeht. „Wenn ich im Speisesaal diese Chawerim höre, die nicht aufhören können darüber zu quatschen wie groß ihre neue Wohnung sein wird, dann fühle ich mich einfach nicht gut dabei. Das gibt mir ein schlechtes Gefühl.“ Eitan verzieht ungeduldig das Gesicht. „Mir reicht es, dass ich über den PC ein Kibbutz-Auto bestellen kann, wenn ich zu einer Hochzeit oder einer Feier fahren oder nur einen kleinen Ausflug machen will. Da gibt’s doch nix dran auszusetzen, die Vergabe der Kibbutz-Autos ist doch wunderbar geregelt. Aber nein, DIE wollen, dass sie ein privates Auto vor dem Haus stehen haben!“
Eitan weiß zwar, dass er den Gang der Dinge nicht aufhalten kann und dass „die Zukunft den jungen Leuten“ gehört, wie er versöhnlich bemerkt, doch gefallen muss ihm das Besitzdenken mancher junger Kibbutzniks deswegen noch lange nicht. Und beim Essen will er sich schon gar nicht darüber ärgern.
Pensionär mit 70
Wann wird man in Mishmar Ha-Emek „Pensionär“? Eitan zuckt mit den Schultern. „Weiß ich nicht“. „Mit siebzig“, meint eine ältere Bewohnerin am Tisch. So eine Frage ist in Mishmar Ha-Emek noch immer ohne Bedeutung. Ein „Pensionär“ erhält dasselbe „Budget“ wie jemand, der noch im Arbeitsleben steht. Und wer kann, der arbeitet auch im Alter weiter. Wenn nicht in der Produktion, dann doch im Haus der Oldtimer, das Eitan vor Jahren gegründet hat. „Da bin ich jetzt Patient“, erzählt Eitan und grinst.
Jeden Tag geht er dorthin und geht seinem neuen Hobby nach – der Töpferei. Am Ende jedes Jahres hält er einen Tag lang offenes Haus und dann kann jeder Kibbutznik kommen und so viele Skulpturen mitnehmen wie er möchte. Eitan bewohnt mit seiner Frau ein schönes, kleines Haus mit großer Terrasse und einem Steingarten. „Unser Haus reicht mir völlig. Kein Problem. Ich habe nie gedacht dass ich NOCH zwei Zimmer haben muss. Mein Frau und ich haben ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer, eine Toilette, das reicht mir doch.“ Auch sonst mangelt es Eitan und seiner Frau an nichts. Sie reisen wann immer sie möchten nach Europa und beschenken ihre Enkelkinder, die nicht das Glück haben im Kibbutz zu leben.
Schüsse auf das Kinderhaus
Eitan macht den Eindruck, dass er im Kibbutz das gefunden hat, was jüngere Israelis heutzutage im Himalaya suchen: Frieden und Erfüllung. Der alte Kibbutznik kennt jedes Haus und jeden Baum im Kibbutz. Als Eitan Kind war, Mitte der Zwanziger Jahre, wohnte er mit den anderen Kindern in einem kleinen Haus, das von einer steinernen Mauer umgeben war. Zum Schutz vor den Kugeln arabischer Scharfschützen. Als Kind hat Eitan von den Kindern der umliegenden Dörfer Arabisch gelernt. Jüdische Spielkameraden gab es außerhalb des Kibbutz nicht. Mishmar Ha-Emek war damals noch eine isolierte Siedlung im Jezreel-Tal. Doch trotz der Gefahren hat Eitan vor allem gute Erinnerungen an seine Kindheit. Jammern und Wehklagen über die Zeit der Armut und der harten Arbeit gehört nicht zu seinem Repertoire.
Die Attraktion des Kibbutz: die Gemeinschaftsdusche
Mishmar Ha-Emek gehört zur linkssozialistischen Bewegung des „Shomer Ha-Tza´ir“, des „Jungen Wächters“. Und in dieser Bewegung gab es strenge links-puritanische Gebote, an die man sich zu halten hatte. „Es gab die so genannten 'Zehn Gebote des Shomer Ha-Tza´ir', die festlegten, was erlaubt und nicht erlaubt, was gut und schlecht ist“, erzählt Eitan. „Natürlich war es bei uns verboten zu Rauchen und Wein zu trinken. Und die 'sexuelle Reinheit' mussten wir natürlich bewahren. DAS war wichtig! Ich weiß zwar immer noch nicht, was das genau sein sollte, aber die sollten wir jedenfalls bewahren.“
In der kleinen jüdischen Gemeinschaft des damaligen Palästina hatte der Kibbutz Mishmar Ha-Emek gleichwohl schon bald den Ruf ein Ort mit eigenartigen Bräuchen zu sein. „Die große Attraktion war die gemeinsame Dusche für Jungs und Mädchen“, erinnert sich Eitan. „Das war für alle, bis zum Alter von 18 Jahren. Ich fand das sehr schön. Die Mädchen nicht so sehr. Und diejenigen die schon ein bisschen größer waren, fanden für sich Wege um nicht in der gemeinsamen Dusche zu duschen.“
Ein anderer Planet
Keine Frage: Die Revolutionäre von Mishmar Ha-Emek trennte von ihren traditionsgebundenen arabischen Nachbarn mehr als nur ein paar Meter Ackerland. Linke Juden und religiöse Araber wohnten auf völlig verschiedenen Planeten. Eitan und die Kibbutzniks haben den arabischen Aufstand von 1929 genauso überlebt, wie wie die Jahre 1936-1939, als das ganze Land von arabischen Fanatikern terrorisiert wurde. Sogar den direkten Angriff arabischer Invasionsarmeen im Unabhängigkeitskrieg von 1948 hat der Kibbutz überlebt. Aber an Eitans versöhnlicher Einstellung gegenüber den arabischen Nachbarn haben die Kriege und Aufstände nichts geändert. Jahrzehnte lang hat er sich zusammen mit anderen Kibbutzniks und arabischen Nachbarn für ein besseres Zusammenleben im Alltag engagiert.
Kein Kibbutz ohne Kibbutzniks
Auf die Frage, warum Mishmar Ha-Emek es im Gegensatz zu vielen anderen Kibbutzim geschafft hat, den Versuchungen des Kapitalismus zu widerstehen, gibt es viele Antworten. Die wichtigste lautet vielleicht: Ein Kibbutz kann nur dann überleben, wenn seine Bewohner es wollen. Noch will man in Mishmar Ha-Emek daran glauben. Die Geschichte der Kibbutzim ist noch nicht vorbei.