„Im Klassenzimmer stehe er gern, sagte er, unmittelbar ausserhalb aber walte der Ungeist, denn im Verlaufe der vergangenen Jahre sei die Schule fast überall in die Klauen von Funktionären geraten, von pädagogischen Analphabeten. Jetzt aber, auf diesem Fussmarsch durch die stille Nacht, verbiete sich jedes weitere Wort über dieses Trauerspiel Schule.“ (1)
Wissenschaft und politische Instrumentalisierung
Die Stimme aus einem wichtigen Roman. Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Markus Werner, während langer Jahre selber als Germanist an der Kantonsschule Schaffhausen tätig, legt sie dem Altphilologen und Lehrer Thomas Loos in den Mund.
Düsterer Pessimismus eines verbitterten Ex-Lehrers oder seismographische Analyse des Konkreten? Wer das Eigentliche und Wesentliche von Bildung und Schule in den Blick nimmt, neigt zur zweiten Deutung, zumal Markus Werner unsere Bildungsnotwendigkeiten à fond kannte und ehemalige Schüler von seinem Unterricht noch heute schwärmen.
Thomas Loos wäre sicher auch an der Tatsache verzweifelt, dass heutige Bildungspolitiker unliebsame Studien kleinreden, wenn nicht gar vertuschen. Wissenschaftler, die den Wert des frühen Fremdsprachenlernens anzweifeln, werden diskreditiert und schikaniert, wie kürzlich auch die „NZZ am Sonntag“ berichtete. (2) Das erinnert an Christian Morgenstern und Palmströms messerscharfen Schluss, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Warten auf die richtigen Ergebnisse
Die kritischen Stimmen zum doppelten Fremdsprachenunterricht in der Primarschule werden lauter. Eine Fremdsprache genüge, so die Meinung. Auch in Baselland zielt eine Initiative in diese Richtung. Jürg Wiedemann vom reformkritischen Komitee „Starke Schule“ sagt es schnörkellos: „Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen.“ Mit seiner Kritik steht er nicht allein. Sie richtet sich auch gegen das Lehrmittel „Mille feuilles“ und seinen didaktischen Anspruch.
Die Fremdsprachendidaktikerin Barbara Grossenbacher, Dozentin der Fachhochschule Nordwestschweiz, will diese Kritik aber nicht zur Kenntnis nehmen. Dass Innovationen Lehrer und Eltern verunsichern können, versteht sie zwar. Doch, so repliziert sie, solle man zuerst die wissenschaftlichen Ergebnisse abwarten, welche, wie sie in schönster Selbstgewissheit sagt, „die Wirksamkeit der neuen Didaktik nachweisen“. Sie tut also so, als ob sie bereits wisse, welche Resultate die einschlägigen wissenschaftlichen Studien erbringen werden. In gleicher Weise werden kritische Stimmen aus der Unterrichtspraxis als belanglos abgetan.
Die Theoretiker und die Praktiker
Der Streit ist symptomatisch. Auf der einen Seite die Wissenschaft, auf der andern die Praxis. Dazwischen ein Graben. Nach Massgabe heutiger wissenschaftlicher Evaluationskulturen wissen wir eigentlich, dass der Gegenbegriff zur Theorie nicht die Praxis, sondern die Empirie ist, die reflektierte Erfahrung. Beides bedingt einander – wie ein Junktim.
Deshalb sind die Resultate des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie so wertvoll. (3) Die weltweit grösste Datenbasis zur Unterrichtsforschung resultiert aus über 80'000 Einzelstudien mit mehr als 250 Millionen Schülerinnen und Schülern. Hattie fokussiert auf wirksame Prozesse („what works best?“) und fordert normativ ein, was er empirisch nachweisen kann. Nur die Effekte zeigen eben, wie es um ein pädagogisches Konzept bestellt ist, nicht die schöne Sprache. „Meinungen gibt es genug; was zählt, ist die messbare Wirkung“, die sogenannten „achievements“, schreibt der Wissenschaftler.
Aus ideologischen Gründen die falschen Resultate
Doch Hatties aufsehenerregende Studie ist für viele eine Provokation. Aus ideologischen Gründen habe er die falschen Resultate gebracht. Reformpädagogisch Orientierte ärgern sich, dass der offene Unterricht und jahrgangsübergreifende Klassen meist unwirksam sind, traditionell Eingestellte, dass das Gleiche fürs Sitzenbleiben gilt. Es gibt so gut wie keine empirischen Belege, dass sie das Lernen der Kinder verbessern.
Viele von Hatties Erkenntnissen stehen geradezu quer zum bildungspolitischen Diskurs. Eine davon ist die Illusion vom selbstregulierenden Lerner und vom Lernen ohne Lehrer LOL: die Lehrerin als Coach und marginalisierte Beobachterin, der Lehrer als Arrangeur von Lernumgebungen und degradiert zum Lern-Faciliator. Selbstorientiertes Lernen SOL wird als Lernszenario und Bildungsziel verabsolutiert. Der neuseeländische Gelehrte dagegen weist nach: Unterricht hängt entscheidend von dem Faktor ab, den die frühere Literatur die „Lehrerpersönlichkeit“ nannte. Die Political Correctness verbietet zwar den Ausdruck, und doch trifft er zu. Auf den guten Lehrer und seinen Unterricht kommt es an. Für das schulische Lernen bedeutsam sind die vital präsente Lehrerin und ihr pädagogisches Wirken.
Weitblick und Nahblick
„Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen!“ So soll eine thrakische Magd ausgerufen haben, als der Philosoph Thales vor ihren Augen in eine Zisterne stürzte. Er spazierte spät abends, den Blick fest auf die Sterne gerichtet, gedankenverloren durch die Strassen von Milet. „Die Geheimnisse des Himmels willst du erforschen und siehst nicht einmal, was vor deinen Füssen liegt!“, spottete die Magd.
Eine Anekdote vielleicht – mindestens so gut erfunden, dass es spitzer gar nicht ginge. Und seither tönt das schallende Gelächter hörbar fort. (4)
Die Geschichte der thrakischen Magd und des ehrwürdigen Philosophen im Brunnenloch kam dem Poeten Markus Werner vielleicht in den Sinn, als er die vielfältigen Ansprüche an den Unterricht sah und das bildungspolitische Geschehen betrachtete – und dabei zu spüren bekam, dass theoretische Höhenflüge oft mehr gelten als solide Arbeit in den Schulen. Gut möglich, dass er darum Thomas Loos diesen resignativen Satz in den Mund legte.
Thales als Vorbild
Weitblick und Nahblick, Theorie und Empirie, die Höhen des Himmels und die Gefilde des Alltags, die akademischen Dachterrassen und das Gewimmel des Parterres. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, die Bildungsstäbe und die Frontleute. Auch die Schule braucht beides, die Denker der grossen Konzepte wie die Praktiker des Alltags. Wirkungsvoll wird erst die Verknüpfung.
Thales von Milet war nicht nur Denker im Grundsätzlichen, er war auch Pragmatiker im Tatsächlichen. Er durchmass die Höhen des Himmels und war gleichzeitig gewiefter Ökonom. Dieser Thales sollte in uns allen stecken. Zusammen mit der Politik muss es gelingen, die grossen schulischen Zusammenhänge im Blick zu haben und gleichzeitig den Alltag zu meistern. Die parallele Akzentuierung einer hohen Schulqualität und der permanenten behördlichen Reformdynamik mit den spürbaren Folgewirkungen wird zu Recht als Widerspruch empfunden. Und ebenso das Negieren und Zensieren wissenschaftlicher Forschungsresultate. Den Sturz in die Zisterne dürfen wir uns nicht erlauben.
(1) Markus Werner. Am Hang. Roman. Frankfurt am Main: Fischer TB. 12. Aufl. 2011, p. 46.
(2) Streit um Frühfranzösisch: Behörden unterdrücken kritische Forschung, in: NZZaS, 18.09.2016, p. 1, 20f.
(3) Hattie John (2009), Visible Learning. London, New York: Routledge. / Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus (2013), Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Hatties umfangreiche Meta-Meta-Studie gilt international als Referenz.
(4) Hans Blumenberg (1987), Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.