Etwa 100 israelische Kampfflugzeuge haben in der Nacht zum Samstag 150 unterirdische Ziele im Gazastreifen getroffen. Es handelt sich um die bisher umfangreichsten Angriffe seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober. Inzwischen hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine «neue Phase des Krieges» ausgerufen. Offenbar sind erste Bodentruppen in den Gazastreifen eingedrungen.
Netanjahu vermied es von einer «grossen Bodenoffensive» zu sprechen. Eine solche wird von Beobachtern stündlich erwartet.
Im Gazastreifen sind nun vereinzelt wieder Telefon- und Internetverbindungen möglich. Hilfskräfte und internationale Organisationen hatten das Ausschalten der Kommunikationsverbindungen durch die israelische Armee scharf kritisiert, weil dadurch Rettungsaktionen massiv erschwert wurden und Mitarbeiter nicht erreichbar waren. Es habe Chaos und Panik gegeben, berichteten Hilfsorganisationen.
Das Internet und die Mobilfunknetze in Gaza waren seit Freitagabend fast vollständig abgeschaltet.
Nach Angaben der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) sind in Gaza Tausende Menschen in Lagerhäuser für Hilfsgüter eingedrungen, um überlebenswichtige Dinge wie Mehl und Hygieneartikel zu erbeuten. Laut UNWRA gibt es Anzeichen dafür, dass die zivile Ordnung in dem Gebiet zusammenzubrechen beginnt.
Guterrez: «Verzweifelte humanitäre Lage»
Der Palästinensische Rote Halbmond erklärt, er sei von den israelischen Behörden angewiesen worden, das Al-Quds-Krankenhaus im nördlichen Gazastreifen zu evakuieren, da es sich in der Kampfzone befinde. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt: «Wir bekräftigen – es ist unmöglich, Krankenhäuser voller Patienten zu evakuieren, ohne deren Leben zu gefährden.»
Uno-Generalsekretär António Guterres fordert Israel erneut auf, eine humanitäre Pause einzulegen. «Die Lage in Gaza wird von Stunde zu Stunde verzweifelter. Ich bedauere, dass Israel statt einer dringend notwendigen humanitären Pause, die von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, seine Militäroperationen intensiviert hat.»
Netanjahu sieht keine Schuld bei sich
Ministerpräsident Netanjahu weist jede Verantwortung dafür, dass sich Israel am 7. Oktober völlig überrumpeln liess, zurück und gibt den Sicherheitskräften alle Schuld. Er sei zu keinem Zeitpunkt von den Behörden gewarnt worden, dass ein Angriff bevorstehen könnte. Der Inlandsgeheimdienst sowie der Chef des Sicherheitsrates hätten ihm und seiner Regierung bis zu den Anschlägen versichert, die Hamas sei abgeschreckt. Zuvor hatte es unbestätigte Berichte gegeben, wonach Netanjahu vor einem möglichen Krieg gewarnt worden ist.
Benny Gantz, ehemaliger Verteidigungsminister Israels und Teil des dreiköpfigen Kriegskabinetts, kritisierte Netanjahus Aussage. Dem Radiosender Channel 13 sagte er, der Premierminister müsse seine Aussage zurückziehen.
«Totales Chaos»
Ein im Gazastreifen stationierter BBC-Journalist hatte am Samstag erklärt , während der «Bombennacht» auf Samstag habe das «totale Chaos» geherrscht. «Es gab ein riesiges Bombardement im Norden des Gazastreifens in einem Ausmass, wie wir es noch nie gesehen haben», erklärte Rushdi Abualouf. Die Ambulanz-Fahrzeuge hätten nicht gewusst, wohin sie fahren sollten, denn überall gab es Explosionen.
Nach den wenigen Berichten von Einwohnern des Gazastreifens fanden die bisher heftigsten Zusammenstösse offenbar im Norden des Gazastreifens in der Gegend von Beit Lahia und Beit Hanoun statt. Doch auch östlich von Burej im Zentrum des Gazastreifens und östlich der südlichen Stadt Khan Younis werden Zusammenstösse gemeldet.
Seit den Angriffen vom 7. Oktober, bei denen die Hamas mehr als 1’400 Menschen tötete und etwa 200 weitere als Geiseln nach Gaza brachte, wird eine umfangreiche israelische Bodenoffensive erwartet. Ob diese jetzt im grossen Stil schon begonnen hat, ist unklar.
Nach Angaben der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) sind während der Luftangriffe sogenannte «Terrortunnels» und unterirdische Kampfräume getroffen worden.
Abu Rabaka getötet
Unter den getöteten Hamas-Aktivisten befand sich nach Angaben des Militärs der Verantwortliche für die Luftstreitkräfte der Hamas, Asem Abu Rakaba. Er sei für die Drohnen- und Gleitschirmeinsätze der Hamas verantwortlich gewesen, erklärt ein israelischer Militärsprecher. Ferner seien die Luftaufklärungs- und Luftabwehrsysteme unter seinem Kommando gestanden.
Abu Rabaka sei an der Planung des Angriffs vom 7. November beteiligt gewesen und habe «Terroristen, die mit Gleitschirmen nach Israel eindrangen» geleitet, erklärt das israelische Militär.
Israel zum Schutz der Zivilbevölkerung aufgefordert
Bisher machte Israel keine Angaben zu der Zahl der in den Gazastreifen eingedrungenen israelischen Soldaten. Am Freitag hatte die israelische Armee erklärt, die Bodenoperation würde «ausgeweitet» und «mit Nachdruck» verfolgt. In der Zwischenzeit haben militante Hamas-Kämpfer in der Nacht zum Samstag weiterhin Raketen auf Israel abgeschossen. Am frühen Samstagmorgen waren nur noch sporadisch Explosionen zu hören.
Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin telefonierte am Freitag mit seinem israelischen Amtskollegen Joaw Galant. Dabei bekräftigte Austin «die Bedeutung des Schutzes der Zivilbevölkerung während der Operationen der israelischen Verteidigungskräfte». Nach Angaben des Pentagon betonte Austin auch die dringende Notwendigkeit, «humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza» zu leisten und die Hamas zur Freilassung aller Geiseln zu bewegen.
Hoher Blutzoll befürchtet
Gemäss Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza sind bis Donnerstag 7’028 Palästinenser und Palästinenserinnen bei israelischen Angriffen getötet worden. Überprüfen lassen sich diese Zahlen nicht, werden jedoch von internationalen Experten als «nicht völlig unglaubwürdig» gehalten.
Sowohl Israel als auch die Palästinenser befürchten, dass die angekündigte Grossoffensive auf Gaza auf beiden Seiten einen sehr hohen Blutzoll fordern wird.
Israel erklärte inzwischen, die israelische Armee könne nicht für die Sicherheit von Journalisten internationaler Nachrichtenagenturen garantieren, die sich im Gazastreifen aufhalten. Dies berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Reuters und die französische Nachrichtenagentur Agence France Press (AFP) hatten das israelische Militär um die Zusicherung gebeten, dass ihre Journalisten vor Ort nicht von der israelischen Armee angegriffen würden.
Die israelische Armee antwortete in einem Brief an beide Agenturen, dass sie «alle militärischen Aktivitäten der Hamas im gesamten Gazastreifen ins Visier nehmen» und «unter diesen Umständen die Sicherheit der Mitarbeiter der Agenturen nicht garantieren könne». Die internationalen Journalisten wurden aufgefordert, «notwendige Massnahmen für ihre Sicherheit zu ergreifen».
Pro-Palästina-Demonstrationen
Drei Wochen nach dem Hamas-Massaker in Israel, bei den mindestens 1300 Israeli ermordet wurden, fanden am Samstag in zahlreichen europäischen Städten Pro-Palästina-Demonstrationen statt. Insgesamt gingen mehrere hunderttausend Menschen auf die Strasse. Die grösste Demonstration fand in London statt. Demonstriert für die Palästinenser wurde auch in Genf, Bern, Zürich, Paris, Rom, Oslo, Kopenhagen, Stockholm und Berlin.