Bereits vor Corona zeigten sich in westlichen Gesellschaften immer tiefere Risse. Die ökonomisch homogene und kulturell konforme Bevölkerung der Nachkriegszeit transformierte sich im Zuge der Bildungsexpansion in eine heterogene Gesellschaft mit immer klareren Gewinnern und Verlierern. Dies hängt mit ökonomischer Ungleichheit zusammen, aber auch mit Entwicklungen in der Bildungslandschaft. Je länger die Bildungsbiografie einer Person, desto grösser die Chance, dass sie den Wertekanon unserer Zeit verinnerlicht hat.
Die Vorurteilsforschung der letzten Jahrzehnte hat deutlich gemacht, dass die Ausprägung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie oder Sexismus stark mit der Schulbildung korreliert. Mit zunehmendem Bildungsniveau werden Vorurteile schwächer.
Steigender Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften
Bildung verändert nicht nur Wertvorstellungen, sondern lohnt sich zumeist auch ökonomisch: Der desindustrialisierte Arbeitsmarkt verlangt nach qualifizierten Arbeitskräften und so verweilen immer mehr Menschen immer länger im Bildungswesen. Verknüpft damit ist eine Öffnung der höheren Bildung für breite Bevölkerungskreise, die ab den 1950er-Jahren langsam einsetzte und bis heute anhält. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellten Gymnasien und Universitäten das Privileg einer kleinen männlichen Schicht von 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung dar. Die anhaltende Bildungsexpansion führte seit 1980 zu einer Erhöhung der allgemeinen Maturitätsquote von rund 10 auf heute etwa 40 Prozent.
So hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein gesellschaftliches Leitmilieu herausgebildet, das als Motor des sozialen Wandels agiert. Für diese Gruppe bedeutsame Werte sind vielfach: Gleichstellung der Geschlechter, Offenheit gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund und verschiedener sexueller Orientierungen oder auch Umweltschutz. Diese Wertvorstellung dienen auch als Distinktionsmerkmal: Einen Schritt weiter, nicht konservativ zu sein – diese Abgrenzung wird in den wichtigen und legitimen Debatten um klimafreundliches Verhalten, Sexismus oder Rassismus erkennbar. Als neuere Beispiele können das Gefühl der Flugscham oder das Gendern im Sprachgebrauch genannt werden. Themen, die stark moralisch aufgeladen sind und kontrovers diskutiert werden.
Rechtspopulisten gegen neue Wertvorstellungen
Allerdings ist dieses Milieu politisch nicht annähernd so mächtig, wie von aussen zugeschrieben, aber es wirkt diskursprägend durch die Verwurzelung in der Wissensökonomie – das heisst an Universitäten, in Publizistik und Kultur sowie im Schulwesen oder auch teilweise in der öffentlichen Verwaltung. Die von ihm vertretenen Werte basieren nicht zuletzt auf Ideen, welche die Neue Linke ab den 1970er-Jahren in die Mitte der Gesellschaft trug. Die Pädagogik spielt dabei eine entscheidende Rolle. Der Freisinn, der das Bildungswesen seit dem 19. Jahrhundert geprägt hatte, wandelte sich ab den 1970er-Jahren zu einer staatskritischen, auf die Wirtschaft fokussierten Partei, Bildungspolitik verlor an Bedeutung, die Bildungslandschaft erhielt einen sozialdemokratischen Anstrich.
Nach Ende des Kalten Krieges veränderte sich das politische Klima dahingehend, dass die bürgerliche Mitte viele der Wertvorstellungen der Neuen Linken übernahm. So dass zahlreiche dieser Anliegen heute auch selbstverständlich Teil der Pädagogik sind: die gleichberechtigte Erziehung von Jungen und Mädchen, Erziehung gegen Rassismus und Nationalismus, Erziehung zur Akzeptanz von Homosexualität oder zum ökologischen Bewusstsein.
Viele Anhänger populistischer Rechtsparteien teilen diese Wertvorstellungen nicht, fühlen sich davon sogar bedroht. Dies zeigt sich nicht nur bei Donald Trumps republikanischen Partei in den USA oder der AfD in Deutschland, sondern auch bei der SVP. So überrascht es nicht, dass sie in ihrem Parteiprogramm beispielsweise fordert, auf «ideologischen Gender- und Sexualkundeunterricht sowie wirtschaftsfeindlichen Ökologie- und Konsumentenschutzunterricht» zu verzichten.
Die unter Generalverdacht stehenden «linken Lehrer» repräsentieren dabei eine als überheblich, dekadent oder weltfremd wahrgenommene Elite, die sich nicht um reale Probleme kümmere. Gleiche Vorstellungen liessen sich auch auf Universitäten oder Medien übertragen. Klar scheint: Menschen, die so denken, waren selten Profiteure der Bildungsexpansion, sind nicht Teil des gebildeten Leitmilieus.
Emanzipatorische und ökonomische Ziele der Bildungsförderung
Die studentisch geprägte Neue Linke vertrat ein Bildungsverständnis, das auf Emanzipation und individuelle Autonomie abzielte und dabei helfen sollte, die sozialen Ungleichheiten abzubauen. Der in linken Kreisen häufig gelesene linksliberale Soziologe Ralf Dahrendorf verfasste 1965 die viel beachtete Schrift «Bildung ist Bürgerrecht», in der er gewissermassen eine linke Position zur Bildungsexpansion formulierte. Er begründete dies mit der Chancengleichheit und deren Realisierung sowie damit, dass Bildung ein soziales Grundrecht sei, das die Bürger befähige, demokratisch zu agieren.
Neben dieser skizzierten Etablierung bestimmter Wertvorstellungen im gesellschaftlichen Mainstream ist im selben Zeitraum eine weitere markante Veränderung erkennbar: die Ökonomisierung der Bildung. Der Bedarf an qualifizierten Nachwuchskräften im Rahmen der Hochkonjunktur der 1950er- und 1960er-Jahr sollte über die Ausschöpfung der eigenen Begabungsreserve gedeckt werden. Damit verknüpft war eine Furcht, dass die Schweiz im internationalen Wettbewerb nicht zu bestehen vermag. Die Reaktion darauf war eine ab den 1950er-Jahren einsetzende, vom Bund geförderte Bildungsexpansion.
Seit den 1980er-Jahren begann die Öffentlichkeit, Realschulen als Problemschulen wahrzunehmen. Nach den wirtschaftlich krisenhaften 1970er-Jahren konnte sie die Integration der Schüler in den Arbeitsmarkt nicht mehr gewährleisten. Während der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit hatte der Arbeitsmarkt problemlos alle Arbeitswilligen integriert – zu relativ egalitären Bedingungen. Die gesellschaftliche Mitte wurde von Facharbeitern, Angestellten, Selbstständigen und Ungelernten gleichermassen getragen. Das Einkommen einer Person reichte für den Lebensunterhalt einer Familie, der Grad der formalen Bildung stellte sich für diese Zeit nicht als entscheidend heraus.
Nun musste die Schule Kinder und Jugendliche auf die gestiegenen Anforderungen des postindustriellen Arbeitsmarktes vorbereiten. In der Hochkonjunktur der 1950er- und 1960er-Jahre hatte eine ökonomische Ausrichtung des Bildungswesens kaum eine Rolle gespielt, alle Arbeitswilligen fanden eine Anstellung. Seit den 1980er-Jahren wird von Akteuren der Wirtschaft verstärkt versucht, die Schule an ihren Bedürfnissen zu orientieren. Im Frühjahr letzten Jahres forderte der Dachverband der Schweizer Wirtschaft Economiesuisse in einem Bildungspapier beispielsweise die stärkere Orientierung an den sogenannten MINT-Fächern sowie ein Laufbahncoaching an den Gymnasien, damit weniger die Studienrichtung, sondern mehr die Berufswahl im Vordergrund stehe.
Bildungsverlierer fühlen sich abgehängt
Mit der Vervierfachung der Maturitätsquote in den vergangenen 40 Jahren ist eine Verschiebung weg von der beruflichen Bildung hin zur Verschulung verknüpft, eine Anpassung an die Anforderungen der Wissensgesellschaft. 53 Prozent der über fünfzehnjährigen Wohnbevölkerung der Stadt Zürich können den Abschluss einer Höheren Fachschule oder einer (Fach-)Hochschule vorweisen. Als Konsequenz daraus ergibt sich aber eine Geringschätzung technischer und handwerklicher Berufe. Menschen ohne höhere Schulbildung fühlen sich vielfach defizitär.
Der gegenwärtige Bildungsimperativ fusst auf Ideen zweier politischer Lager: Auf der einen Seite steht das wirtschaftsliberale Lager, das Bildung vornehmlich aus Gründen der ökonomischen Verwertungslogik im globalen Wettbewerb fördert. Auf der anderen Seite operiert die Linke, die Bildung primär als Instrument zu Autonomie und Mündigkeit versteht. Die beiden Positionen müssen nicht als gegensätzlich, sondern eher komplementär, als sich gegenseitig beeinflussend verstanden werden. Geprägt von diesen Vorstellungen geniesst die Förderung von Bildung gesellschaftlich breiten Rückhalt.
Vor allem in den Städten hat sich ein Leitmilieu entwickelt, das von der Bildungsexpansion profitieren konnte. Menschen ausserhalb dieses Milieus hingegen fällt es vielfach schwer, den erhöhten Anforderungen der Zeit gerecht zu werden. Ihre berufliche Ausbildung hat durch die Akademisierung an Ansehen verloren. Für wenig Qualifizierte sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gesunken, weil immer mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte verfügbar sind, die von den Unternehmen bevorzugt werden. Die Bildungsexpansion hat folglich zu einer Statuskonkurrenz durch Bildung und einer Statusgefährdung durch nachteilige Bildungsentscheide geführt. Die Bildungsverlierer fühlen sich abgehängt – ökonomisch und kulturell.
Die Wissensgesellschaft erweist sich grundsätzlich als Gewinn: Menschen werden toleranter, offener, flexibler, selbstständiger, phantasievoller. Dies lässt sich durchaus auch ökonomisch verwerten. Wenn wir uns eine aufgeklärte, möglichst vorurteilsfreie Gesellschaft wünschen, kann die Antwort auf diesen Bildungsgraben nur sein, die Bildung noch stärker zu fördern.