Stefan Keller, Schriftsteller, Journalist, Historiker, gebürtiger Thurgauer (was in diesem Fall nicht ganz unwichtig ist), legt im Rotpunkt Verlag unter dem Titel „Bildlegenden“ 66 wahre Geschichten vor: keine übersteigt die Zahl von 2000 Zeichen, viele kommen gar mir 200 aus. Bildlegenden im Wortsinn, also bloss erklärende oder kommentierende Bildsubtexte sind es nicht – da würde man sie falsch einschätzen, dafür sind sie zu eigenständig und fantasievoll. Um Legenden, sagenhafte, teilweise oder ganz erfundene Geschichten handelt es sich auch nicht, erheben sie doch den (berechtigten) Anspruch wahr zu sein, was in diesem Fall meint, dass sie auf Recherchen in der Wirklichkeit beruhen.
Keller hat in Archiven, Brockenhäusern nach alten Fotografien und Postkarten gestöbert, hat sie im Internet ersteigert und dann, gelegentlich mit Kommentaren versehen, auf Facebook gepostet. Redaktoren der Ostschweizer Kulturzeitschrift „Saiten“ und später Kollegen der WOZ baten ihn, in ihren Zeitschriften regelmässig solche Bildgeschichten zu publizieren. Aus den beiden Serien ist jetzt ein Buch geworden – und die Bildgeschichten haben es in sich!
Bodensee und Arbeiterbewegung
Das Material, das Keller bearbeitet, stammt vornehmlich aus zwei Quellen. Zum einen bietet der Bodenseeraum einen fruchtbaren Nährboden, zum andern ist die Arbeiterbewegung im weitesten Sinn ein unerschöpfliches Thema.
Zweierlei beherrscht der Autor meisterhaft: das Verdichten und das Weglassen. Was er findet, aussucht, zeigt und mit einem Text versieht, das muss im Arbeitsprozess immerzu verkleinert und eingedampft werden. So dass am Schluss die 200 oder 2000 Zeichen nicht überschritten werden und die Geschichte doch ihren Sinn offenbaren, ihre Wirkung entfalten kann.
Es gibt aus der Autobiografie gewonnene Erlebnisse, Erinnerungen, Erzählungen, die sich um eine dargestellte Figur legen, um Fräulein Walder zum Beispiel, die man auf einem Foto zu Anfang des 20. Jahrhunderts als kleines Mädchen auf einer Bank sitzen sieht und die dem Autor als alte Dame am heimischen Stubentisch begegnet ist.
Keller hat im familiären Umkreis recherchiert, hat in Zeitungsarchiven geforscht und lässt in ein paar Sätzen ein reiches Leben Revue passieren, hinter dem sich, in Andeutungen, ein Zeitgemälde versteckt.
Der Autor verzichtet weitgehend auf kunstvoll-künstliche Zuspitzungen, auf Pointen, und er hütet sich davor, die erzählten Fragmente anekdotisch abzurunden und der Form zuliebe zu fiktionalisieren. Die zusammengetragenen Informationen, die sparsam eingesetzten und als solche immer kenntlich gemachten Spekulationen bleiben sperrig, stehen mit dem dazugehörigen Bild in einer Art von gleichberechtigter Zwiesprache. Was man liest und anschaut wirkt authentisch. Die Fantasie, die brauchte es, um auszuwählen, um den Angelpunkt zu definieren, von dem aus das Bild interpretiert werden sollte. Dann aber, so versichert Keller im Gespräch, und man darf es ihm glauben, habe er sich ausschliesslich um Fakten gekümmert und zum Gefundenen nichts dazu erfunden.
Moskau im Schaffhausischen
Eine der spektakulärsten Geschichten trägt den Titel „Moskau“. Auf dem Foto ist das „Restaurant zur Moskau“ samt angebauter „Handlung“ abgebildet. Es steht (oder stand) im Kanton Schaffhausen ganz nahe der Grenze zu Deutschland und ist, wie Keller herausfindet, im Jahr 1933 Schauplatz einer veritablen Räuberpistole gewesen, mit einem kommunistisch orientierten tschechoslowakischen Schmuggler, einer grenzverletzenden deutschen Polizeieinheit, einer diplomatischen Demarche – und, ausnahmsweise, mit einer überraschenden Schlusspointe oder Wendung. Ein fait divers mit ungeahnten Folgen, ein in die Ostschweiz verpflanztes Moskau: Keller bringt in wenigen Sätzen die absurdesten Fakten in einen Zusammenhang, Fakten, wie sie die real existierende Wirklichkeit besser als jeder Fiktionalist liefern kann.
Einem veritablen Erfinder widmet Keller die unter dem Titel „Suter fliegt auf“ ins Buch aufgenommene, höchst amüsante Geschichte.
Sie gehört zu den Skurrilitäten, an denen es den „Bildlegenden“ nicht mangelt. Hier geht es um ein Luftschiff, das ein Johann Heinrich Suter gebaut hat und 1901 in Arbon starten will. Das an eine gigantische Wurst erinnernde Ding erhebt sich auf dem Foto grad knapp über den Seespiegel. Es stürzt, wie Keller weiss, ab, geht kaputt, der Erbauer muss Spott und Hohn ertragen – und baut später am Zürichsee einen Hubschrauber. Aber das wäre dann eine andere Geschichte.
Stefan Keller: Bildlegenden, 66 wahre Geschichten,
Mit 66 Abbildungen
144 Seiten - 21 x 16 cm, gebunden
ISBN 9783858697110
Rotpunktverlag, 29 Franken