Im Filmpodium Zürich ist derzeit wieder das Stummfilmfestival im Gang – das 18., nachdem die Veranstaltung letztes Jahr coronabedingt hatte entfallen müssen. Rund zwanzig Titel, Berühmtes neben völlig unbekannten Werken, sind in möglichst bester zurzeit greifbarer Kopie zu sehen – und werden im Live-Konzert musikalisch begleitet.
Seit einigen Jahrzehnten schon ist eine Wiederentdeckung, Wiederbelebung und Neueinschätzung der Epoche des Stummfilms im Gang, die inzwischen Aberhunderte von Filmtiteln dem Vergessen entrissen und neu ins Bewusstsein gebracht hat. Eine Filmkunst, deren Vorführung seinerzeit keineswegs stumm vonstatten ging, jedenfalls nicht in den Kinos. Anders mag es in den ersten Jahren des Jahrmarktvergnügens gewesen sein – dort hätte sich dann allenfalls ein einsamer Pianist gegen den allgemeinen Lärmpegel durchzusetzen versucht. In den grösseren Kinos allerdings war bald einmal mit beeindruckendem Geräuschvolumen die Kinoorgel im Einsatz, mit Wurlitzer oder Welte & Söhne als den bekanntesten Marken. Für Galavorstellungen grosser Produktionen konnten auch ganze Orchester für eigens komponierte Musik aufgeboten werden.
Exquisite Nischenkunst
Selbstverständlich ist auch die «Epoche» ihrerseits alles andere als homogen. Den Kintopp oder Kientopp der frühen Jahre mit seinen «one-reelers» – Filmrollen, die auf einer einzigen Spule von wenigen Minuten Dauer ihre Geschichte zu erzählen hatten – verbindet sozusagen nichts mehr mit den ausgeklügelten psychologischen Dramen der späten zwanziger Jahre. Zugleich waren bereits in den frühen zehner Jahren die ersten epischen Monumentalfilme in Produktion gegangen und sorgten laufend für bahnbrechende technische Neuerungen und dramaturgische Revolutionen.
«Leinwandgöttinnen» wie Greta Garbo – deren fortwirkender Ruhm ohne den Tonfilm schwer vorstellbar wäre – hin, populäre «Zappelburlesken» her: Der Stummfilm hat sich etabliert als Nischenkunst, die vorzugsweise an Festivals ihr Publikum an Kennern und Liebhabern findet. Ein Publikum, das dramaturgische Ungereimtheiten – oft auch bloss eine Folge fragmentarischer Überlieferung – ebenso in Kauf nimmt wie schauspielerische Exaltation, welch Letztere ebenso ins Archiv historischer Bedeutsamkeiten gehört wie längst verschwundene Stadtansichten, Kleidermoden, Essgewohnheiten oder Naturlandschaften. Dies, wohlgemerkt, in Spielfilmen; der Dokumentarfilm war noch nicht erfunden bzw. existierte erst in der Form der Wochenschau. Früh schon zeigt er, was filmische Essenz ist – und wie schwierig diese immer schon zu erreichen war. Als Fenster in die Frühzeit eines neuen Mediums gewährt er uns Einblicke in vergangene Lebenswelten, wie sie keine andere Kunstform bieten kann.
Im Bioskop des «Zauberbergs»
Thomas Mann hat dem Spektakel, wie er es im «Bioskop-Theater» in Davos Platz erlebt haben mag, im «Zauberberg» eine vergnügliche Passage gewidmet. Da «flirrte» in der schlechten Luft, die sich den Besuchern «schwer auf die Brust legte und einen trüben Nebel in ihren Köpfen erzeugte, eine Menge Leben, kleingehackt, kurzweilig und beeilt, in aufspringender, zappelnd verweilender und wegzuckender Unruhe, zu einer kleinen Musik, die ihre gegenwärtige Zeitgliederung auf die Erscheinungsflucht der Vergangenheit anwandte und bei beschränkten Mitteln alle Register der Feierlichkeit und des Pompes, der Leidenschaft, Wildheit und gierenden Sinnlichkeit zu ziehen wusste, auf der Leinwand vor ihren schmerzenden Augen vorüber» – «voll […] tödlicher Lust und verweilender Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt»…
Unikate
Seit 2003 lässt es sich das Filmpodium Zürich nun schon angelegen sein, jährlich sein Stummfilmfestival durchzuführen. Dies im Kontakt und in Zusammenarbeit mit führenden Kinematheken, Filmmuseen und einschlägigen Festivals, was für Qualität sowohl bei den Kopien der Filme wie, nicht minder wichtig, bei den Musikern bürgt, die die Filme live begleiten. Neben «Hausmusikern» wie André Desponds oder Martin Christ sind so auch seit vielen Jahren international tätige Spezialisten ihres Metiers wie Günter A. Buchwald, Neil Brand, Stephen Horne oder Maud Nelissen zu Gast in Zürich. Sie kennen nicht nur die Filme à fond, sondern wissen auch über die «historische Aufführungspraxis» Bescheid, die es ebenso im Kopf zu behalten wie zu «transzendieren» gilt – sei es ab einem Notentext, sei es in freier Improvisation.
Die Live-Konzerte im denkmalgeschützten Kinosaal des ehemaligen «Studio 4» an der Nüschelerstrasse sind naturgemäss «Unikate»: Genau so wird man diesen Film zwar möglicherweise wieder einmal zu sehen, bestimmt aber nie wieder zu hören bekommen. Sternstunden ereignen sich dann, wenn die Kraft der Filmbilder ihre Entsprechung in den klanglichen Evokationen findet – dies sind die Glücksfälle. Häufiger ist es so, dass die Musik die Schwächen des Films – die zahlreich sein können, aus unterschiedlichsten, auch «ehrenwerten» Gründen – vergessen macht, indem sie ihm Ebenen an Bedeutung einschreibt und entlockt, die wir sonst vielleicht nicht erkannt hätten.
Falsche Adresse
Umso ärgerlicher dann allerdings die vor einiger Zeit aufgekommene und leider inzwischen fast ausnahmslos geübte Mode der Interpreten, den Applaus eines dankbaren Publikums nicht entgegenzunehmen, sondern – aus Verlegenheit? – mit ausgestreckten Armen Richtung Leinwand «weiterzuleiten» … Nein! Heute Abend bedanken wir uns weder bei der Regie noch bei den Schauspielern, nicht einmal bei der Kamera: Die waren alle ganz in Ordnung, aber keineswegs besonders. Der Musik und das heisst den Künstlerinnen und Künstlern gilt unser Dank.
Klobiges Sowjetkino
Beim Stummfilm ist es, mit andern Worten, ähnlich wie beim Dokumentarfilm: Das Ding mag, künstlerisch, höchst durchschnittlich sein, aber da sind eben derart viele Aspekte vergangener, vergessener, unbekannter Wirklichkeiten, dass unser Interesse wach bleibt. Selbst beim diesjährigen Eröffnungsfilm, einer klobig polternden Angelegenheit. Denn «Kosmische Reise» von Wassili Schurawljow – in dem der Sowjetunion im Jahr 1946 die erste Mondlandung gelingt – ist filmhistorisch gleich doppelt interessant: als bis dahin offenbar teuerster sowjetischer Film und als Anachronismus.
Auch im Terrorstaat Stalins war 1936 der Stummfilm längst Geschichte. Der Name des Diktators prangt selbstverständlich auch auf dem «Raumgleiter», der – ein fernes Echo des Futurismus inmitten all des Sozialistischen Realismus – von einer Startrampe, wie von Tatlin oder El Lissitzky entworfen, auf den Weg zum Mond geschickt wird. Physikalisch-technische Gegebenheiten brauchen dabei niemanden zu kümmern. Hübsch die «schwerelosen» Känguruhsprünge auf dem Mond, bemühend der naseweise Komsomolze, der praktisch im Alleingang die Mondfahrt rettet. Das Interessante ist nun aber: Bereits 1936 (bzw. «1946») wird hier die Raumkapsel mittels Fallschirm auf die Erde zurückgebracht – etwas, was die Amerikaner bekanntlich nie geschafft haben.
Skandinavische Lauterkeit des Bildes
Und so sind sie denn alle mehr als ihre Liebesgeschichte. «Sången om den eldröde blomman» (Das Lied von der feuerroten Blume/Song of the Scarlet Flower) des Schweden Mauritz Stiller von 1919 gehört zu den kühnen Plein-air-Unternehmen des frühen skandinavischen Films. Die Wanderschaft des jungen Helden von Frau zu Frau – wobei Doris Nelsons Prostituierte elegant die Moderne in den ländlichen Reigen aufblitzen lässt – kulminiert so in beeindruckenden, gewagten Sequenzen aus der Tätigkeit der Flösser. Auch Maurice Tourneurs ebenfalls 1919 entstandener, betont melodramatischer «The Broken Butterfly» hat seine besten, weil heiteren Momente in freier Natur.
René Clair, der mit Filmkritiken begonnen hatte, bevor er ins Regiefach hinüberwechselte, nannte das 1923 «Schweden oder die Lauterkeit des Bildes». 1924 versammelte sein Erstling, «Entr’acte», dann allerdings die Pariser Avantgarde zu einem dadaistischen Manifest der filmischen Moderne, in dem die Lauterkeit des Bilds in dessen endloser Variabilität und Verformbarkeit durch den Kinoapparat verschwand. Der Geist von «Entr’acte» spukt auch durch seinen ersten abendfüllenden Spielfilm, den im Folgejahr erschienenen «Le Fantôme du Moulin-Rouge»: Kein Geringerer als der Genius des Films persönlich zerzaust hier die wohlsortierten Arrangements der Pariser Bürgerlichkeit.
Das pervertierte und das heitere Lachen
In Paul Lenis «The Man Who Laughs» (1928) sieht sich das Lachen zur eingefrorenen Grimasse pervertiert. Von ruchlosen Kinderhändlern und -schändern, den «comprachicos» aus Victor Hugos historischem Roman «L’Homme qui rit», ist es mit dem Messer auf ewig in die Mundwinkel der von Conrad Veidt verkörperten (adeligen) Titelfigur geschnitten. Dem Film gelingt es immerhin in Ansätzen, die Tragik dieser Clownexistenz – die der Figur des Joker in «Batman» Pate gestanden hat – zu vermitteln. Wie auch in Tourneurs «The Broken Butterfly» hat hier ein Hund (bei Hugo war er sogar ein gezähmter Wolf) zentrale, lebensrettende Aufgaben – und verweist zugleich auf die zahllosen Tierdarsteller im frühen Film.
Lubitsch, das ist Kino als Vergnügen, auch noch im Abgründigen, das 1924, als «Forbidden Paradise» entstand, freilich kein Thema war. Die Zarin eines wie immer imaginären Reichs, Pola Negri, hat Gefallen an ihren schmucken Offizieren, deren Dienste durch jenen Orden belohnt werden, der bereits an einer langen Reihe von Uniformbrüsten prangt. Eben ist der jüngste Aspirant dabei, sich auszuzeichnen, und der Reichskanzler, ein vorzüglicher Adolphe Menjou, gedenkt, sich ein Bild der Lage zu machen. Wie? Mittels eines Blicks durchs Schlüsselloch, was sonst. Und was bekommt er zu sehen? Die letzten Meter einer Schleppe, die sich auf ihn zubewegen, dann nichts, und dann wird von innen ein Vorhang zugezogen. Zensur? Ein erotisch-witziges Spiel voller Intelligenz, dessen Teilnehmer bestens wissen, was sie voneinander zu halten haben.
Film im Film
Ein frühes Beispiel für Film im Film ist Friedrich Wilhelm Murnaus «Tartüff» (1925), indem er Molières unsterbliches Stück über religiösen Wahn und schamlose Betrügerei als filmisches Exempel eine Rahmenhandlung über Erbschleicherei illustrieren lässt. Natürlich sehen wir Emil Jannings in der Titelrolle des abgefeimten Erzschurken, der Wasser predigt und sich seinen Wanst vollschlägt, immer wieder gern dabei zu, wie er, das Brevier fast schon auf der Nase, lüstern zur Seite schielt – nicht zuletzt nach Lil Dagovers Frau Elmire. Das Ereignis des Films ist aber seine erste halbe Stunde: bevor Tartüff auch nur in Erscheinung tritt. Wie hier Ankunft und Auftritt des Übeltäters durch einen völlig verblendeten Herrn Orgon vorbereitet werden, in einem präzis abgezirkelten Tanz der Konfusionen – das ist Kino von einer Brillanz, der auch die einfallsreichste Musik nichts mehr hinzuzufügen braucht.
Die zweite Halbzeit des Stummfilmfestivals im Filmpodium Zürich Ende Januar und Anfang Februar hält jeweils an den Wochenenden unter anderem «Abwege» (1928) von G. W. Pabst mit Brigitte Helm bereit, «Sherlock, Jr.» (1924) von und mit Buster Keaton, «Die sieben Töchter der Frau Gyurkovics» (1926) von Ragnar Hyltén-Cavallius oder «Show People» (1928) von King Vidor mit Marion Davies. Musiker sind unter andern das fabelhafte Trio Günter A. Buchwald, Frank Bockius und Bruno Spoerri. Den Abschluss schliesslich macht am 12. Februar Alfred Hitchcocks Jack-the-Ripper-Geschichte «The Lodger» (1927), in dem der «Master of Suspense» seinen ersten Kurzauftritt hat; am Flügel André Desponds.