Am vergangenen Freitag hat Präsident Joe Biden zum ersten Mal mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski telefoniert. Gemäss Kiewer Verlautbarung in Kiew hat Biden die unerschütterliche Unterstützung seines Landes für eine unabhängige Ukraine betont. Auch seien gemeinsame Manöverübungen in der Ukraine in Aussicht genommen worden, an denen rund tausend Soldaten aus mindestens fünf Nato-Ländern beteiligt werden sollen. Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte darauf, dies würde Russland auf seiner Seite zu entsprechenden militärischen Gegenmassnahmen veranlassen. «Russland bedrohe niemanden und habe nie jemanden bedroht», fügte er hinzu. Eine merkwürdige Behauptung im Zusammenhang mit der Ukraine, von der Russland vor sieben Jahren die Krim annektiert hat. Ausserdem unterstützt Moskau separatistische Kräfte in der Ostukraine, die ohne diese militärische Hilfe längst zusammengebrochen wären.
Die Ukraine ist geopolitisch gesehen vielleicht das gewichtigste Dissens-Thema zwischen Washington und dem Putin-Regime. Der Kremlchef hat die politische Eigenständigkeit der ehemaligen Sowjetrepublik und Zarenprovinz trotz früherer vertraglicher Zusicherungen im Grunde seiner Seele nie akzeptiert. Und Biden, der als Vizepräsident viel mit diesem Land zu tun hatte, scheint – anders als sein Vorgänger Trump, den das nicht interessierte – gut begriffen zu haben, dass Russland ohne die weitläufige Ukraine als Anhängsel keine dominante Vormachtrolle in Europa spielen kann.
Biden hat, abgesehen von seinem demonstrativen Eintreten für die ukrainischen Interessen, das persönliche Verhältnis zu Putin schon zuvor durch eine stark umstrittene Aussage getrübt. Die Frage eines Journalisten im amerikanischen Fernsehen, ob er Putin für einen Killer halte, hatte er kurzerhand mit Ja beantwortet. Das war eine höchst undiplomatische und wahrscheinlich auch unüberlegte Antwort. Nicht wenige Zeitgenossen innerhalb und ausserhalb Russlands mögen zwar davon überzeugt sein, dass russische Geheimdienstoperationen mit tödlicher Wirkung kaum ohne das Placet des Machthabers im Kreml durchgezogen werden. Doch es bringt die Entschärfung konkreter Probleme nicht weiter, wenn amtierende Staatsmänner sich ohne hieb- und stichfeste Beweise öffentlich als Verbrecher anprangern. Denn bei nüchterner Überlegung muss sich der Staatsmann gleichzeitig bewusst sein, dass er im Interesse des eigenen Landes um Verhandlungen und Kompromisse auch mit skrupellosen Potentaten nicht herumkommen wird. Churchill und Roosevelt haben mit Stalin kooperiert, ohne sich über den Charakter seines Regimes Illusionen zu machen.
Indessen müssen rhetorische Provokationen den Weg zu nachfolgenden politischen Verständigungen keineswegs unwiederbringlich verbauen. Zu erinnern wäre da etwa an die Verstimmungen, die der damalige Bundeskanzler Kohl Mitte der achtziger Jahre losgetreten hatte, als er die ersten Entspannungssignale des neuen Kremlchefs Gorbatschow mit den Propagandamethoden eines Josef Goebbels in Zusammenhang brachte. Niemand konnte damals voraussehen, dass Kohl und Gorbatschow bald darauf eine überaus konstruktive Partnerschaft entwickeln würden, die entscheidend zur Auflösung des Sowjetimperiums und zur Wiedervereinigung Deutschlands beitrug.
Ob Biden und Putin es je zu einem ähnlich entspannten Verhältnis und einer ebenso bedeutenden Verständigung bringen werden, erscheint aus heutiger Sicht zwar ziemlich unwahrscheinlich. Doch auch in diesem Fall gilt die von der Geschichte immer wieder bestätigte Wahrheit: Die Zukunft ist nicht vorhersehbar.