Seinen monumentalen Erinnerungen über den Zweiten Weltkrieg hat Winston Churchill neben anderen Ratschlägen das Motto vorangestellt: Im Sieg – Grossmut (magnanimity). Der amerikanische Wahlsieger Joe Biden wird gut daran tun, diese Botschaft ernst zu nehmen. Auch wenn er vier Millionen Stimmen mehr bekommen hat als sein Rivale Donald Trump, so ist es keineswegs zu jenem «blauen Erdrutsch» gekommen, den die meisten Demoskopen vorausgesagt hatten. Im Kongress haben die Demokraten vorläufig nur im Repräsentantenhaus eine leicht reduzierte Mehrheit und im Senat werden die Sitze definitiv erst im Januar verteilt.
Jene 70 Millionen Wähler, die sich für Trump entschieden haben und ihre Repräsentanten im Parlament bleiben eine starke politische Kraft, die durchaus in der Lage sein wird, viele der von Biden versprochenen Veränderungen zu blockieren. Der Wahlsieger kennt solche ernüchternden Erfahrungen aus seiner Zeit als Vizepräsident in der Regierung Obama.
Offenkundig ist er entschlossen, zumindest in der Rhetorik, die verbissenen ideologischen Fronten zwischen den beiden grossen Parteien und ihren Anhängern aufzuweichen. «Wir sollten aufhören, unsere Opponenten als Feinde zu behandeln», sagte er am Samstagabend in Wilmington in seiner Siegesrede. Das ist eine sehr viel versöhnlichere Tonart, als sie Trump als Präsident und als Wahlkämpfer kultiviert. In dessen konfrontativer Rhetorik sind die Demokraten wild entschlossen, Amerika den Sozialismus aufzuzwingen und ihm den sicheren Wahlsieg an der Urne zu stehlen.
Aber allein mit einem versöhnlichen statt hämischen und weniger polarisierenden Stil im Weissen Haus wird es Biden kaum gelingen, mehr Vertrauen und Kompromissbereitschaft in den Reihen des Trump-Lagers zu mobilisieren. Ohnehin ist für den Aussenstehenden schwer fassbar, weshalb ausgerechnet die weniger gebildeten weissen Amerikaner, die kein College besucht haben, mehrheitlich für den aufschneiderischen Milliardär Trump stimmten, der aus seiner Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Nöten kein Geheimnis macht und Menschen, die nicht mit einer Erfolgskarriere glänzen können, gerne als Loser oder Versager herabwürdigt.
Mit diesem bis zum verblüffenden Wahlsieg Trumps vor vier Jahren in den USA weitherum übersehenen Paradox setzt sich der Harvard-Professor Michael Sandel tiefer auseinander. Er erklärt die Popularität des egomanen politischen Aussenseiters gerade bei der weissen Unterschicht mit dessen instinktsicherer Fähigkeit, deren Frustrationen und Ressentiments aufzustacheln gegenüber der gebildeteren Aufsteigerschicht und dem tonangebenden Milieu in den Medien sowie über die oft einseitige Konzentration in den öffentlichen Debatten auf identitäre Minderheiten, wie etwa Gay People, Latinos oder Schwarze.
Biden, der aus eher bescheidenen Verhältnissen stammt, ist zuzutrauen, dass er das richtige Sensorium gegenüber dem heterogenen Feld der sogenannten Globalisierungsverlierer und sozial an den Rand Gedrängten unter den weissen Trump-Wählern findet. Möglicherweise hat er seinen jetzigen Wahlsieg nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass er diesem Milieu intensivere Aufmerksamkeit schenkte als Hillary Clinton vor vier Jahren. Die damalige Präsidentschaftskandidatin hatte mit ihrem abschätzigen Spruch über den «Korb der Armseligen», die sie als Politikerin nicht erreichen könne, sich und ihrer Partei schweren Schaden zugefügt. Die Bemerkung war zwar nur in einem geschlossenen Zirkel gefallen und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, wurde aber bald darauf von ihren Gegnern genüsslich verbreitet.
Allerdings muss der neue Präsident neben einem glaubwürdigen, inklusiven Stil gleichzeitig bestrebt sein, durch konkrete Politik unter den misstrauischen Trump-Wählern die Überzeugung wachsen zu lassen, dass er es – anders als ihr bisheriges Idol Trump – ernst meint mit seinen Wahlversprechungen. Durch ein gross angelegtes Programm zur Erneuerung der maroden Infrastrukturen und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze durch innovative Umwelttechnologien könnte er auch unter den jetzigen Wahlverlierern Vertrauen hinzugewinnen. Und sollte es Biden gelingen, die von Trump hartnäckig verharmloste Corona-Epidemie dank eines konsequenten wissenschaftlichen Einsatzes in absehbarer Frist einzudämmen, so würde das zweifellos zur Stärkung seiner Präsidentschaft beitragen.
Garantien, dass solche Brückenbauten über die ideologischen Abgründe hinweg gelingen werden, gibt es – wie immer in der Politik – indessen nicht.