Seit Wochen wird die von Präsident Biden geforderte zusätzliche Hilfe an die Ukraine im Umfang von 61 Milliarden Dollar von den Republikanern im Kongress blockiert. Diese fordern Konzessionen zur Eindämmung der Migration an der US-Südgrenze. Biden scheint dazu neuerdings bereit, aber die Demokraten tun sich schwer damit.
Wer mit vielen dringlichen Problemen gleichzeitig konfrontiert ist, muss Prioritäten setzen. Vor Präsident Joe Biden, der als 81-Jähriger für vier weitere Jahre ins Weisse Haus gewählt werden will, türmt sich ein kaum überblickbarer Berg von Fragen, deren Lösung oder Nichtlösung seine Wiederwahl wesentlich beeinflussen dürfte. Zurzeit steht die Fortsetzung der militärischen und zivilen Hilfe an die von Russland überfallene Ukraine weit vorne auf der Prioritätenliste. Biden hat dem Kongress im Herbst einen langfristigen Rahmenkredit im Umfang von 61 Milliarden Dollar für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine beantragt.
Die Freigabe dieser Gelder ist dringend notwendig, weil die bisher bewilligten Finanzmittel zur Unterstützung der Regierung Selenskyj in Kiew weitgehend erschöpft sind. Laut der Statistik des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hat die EU als Institution bis Ende Oktober zwar mit rund 85 Milliarden Euro wertmässig die grösste Hilfe geleistet. Die Unterstützung der USA beläuft sich auf etwas über 70 Milliarden Euro. Doch bezüglich Waffenhilfe an die Ukraine stehen die USA weit an der Spitze.
Es gibt wenig Zweifel, dass ohne diese prompte Lieferung amerikanischer Waffen, kombiniert mit effizienter geheimdienstlicher Aufklärung, die Ukraine in den ersten Wochen des russischen Angriffs überrannt worden wäre und Putin wie geplant ein Marionettenregime in Kiew installiert hätte. In dieser Perspektive war Bidens entschlossene Reaktion auf Putins imperialen Überfall ein eigentlicher Glücksfall – und dies bei weitem nicht nur für die Ukraine. Ob dieses flächenmässig grösste Land Europas heute noch als selbstständiger Staat existieren würde, wenn im Februar 2022 der Putinsche Geistesverwandte Trump im Weissen Haus regiert hätte, bleibt jedenfalls höchst fraglich.
Jetzt aber ist die Fortsetzung der amerikanischen Waffenhilfe akut gefährdet. Die Republikaner im Kongress, die im Repräsentantenhaus über eine knappe Mehrheit verfügen, sind nicht bereit, der von Biden geforderten längerfristigen Fortsetzung im Umfang von 61 Milliarden Dollar zuzustimmen. Sie verlangen von ihm Gegenleistungen zur Eindämmung des stark angestiegenen Andrangs von Migranten an der amerikanischen Südgrenze. Im Dezember sind täglich über 10’000 Flüchtlinge und Asylbewerber aus Mexiko in die USA geströmt. In vielen Medienberichten ist davon die Rede, dass das Kontrollsystem entlang dieser Grenze am Zusammenbrechen sei. Auch Städte wie New York, Washington DC an der Ostküste oder Chicago und Denver im Landesinneren, die vorläufig aufgenommene Flüchtlinge unterbringen müssen, beklagen eine Migrationskrise.
Präsident Biden scheint zwar gewillt, den Forderungen der Republikaner nach zusätzlichen Mitteln und Massnahmen zur Reduzierung des Migrationsstroms an der Südgrenze entgegenzukommen. Doch ein Teil der Demokraten in beiden Kammern des Kongresses tut sich schwer, diese Forderungen zu akzeptieren. Erstens sind verschiedene Wählerschichten, die die Einwanderung tendenziell gutheissen oder aus ethnischen und verwandtschaftlichen Gründen zu fördern bereit sind, traditionell eher mit den Demokraten verbunden. Dazu zählen nicht zuletzt die Latinos mit südamerikanischen Wurzeln und die Amerikaner aus dem indischen und südostasiatischen Raum, die in der US-Wirtschaft eine zunehmend bedeutende Rolle spielen.
Hinzu kommen auf demokratischer Seite politisch verständliche Befürchtungen, im laufenden Wahljahr könnten verschärfte Massnahmen zur Abschottung der Südgrenze den Zielen und Behauptungen von Bidens wahrscheinlichem Konkurrenten Trump in die Hände spielen. Trump hatte, wie man sich erinnert, schon im Präsidentschaftswahlkampf 2016 gegen Hillary Clinton bombastisch argumentiert, er werde diese Migrationsprobleme mit der Errichtung einer hohen Mauer entlang dieser Grenze lösen – und Mexiko werde dafür die Rechnung zahlen.
Teile dieser Mauer sind während Trumps Amtszeit tatsächlich gebaut worden, allerdings, versteht sich, ohne dass Mexiko die Kosten übernommen hatte. Trotzdem ist der Migrationsdruck seither im Ganzen nicht geringer geworden. Auch Präsident Biden hat durch zahlreiche administrative Erlasse versucht, die damit verbundenen Probleme besser in den Griff zu bekommen. Wie man inzwischen auch in Europa weiss, gibt es zur Bewältigung des Migrations- und Flüchtlingsandrangs aus Krisenregionen keine Zauberformel, mit der sich diese Herausforderungen nachhaltig und ohne Verletzung fundamentaler humanitärer Grundsätze bewältigen lassen – oder zumindest als emotional aufgeladene Schlagwörter aus Wahlkämpfen heraushalten liessen.
Dennoch müssen sich die Demokraten im Kongress bewusst sein, dass sie Präsident Bidens grundsätzliche Bereitschaft zu einer Einigung mit den Republikanern in der Migrationsfrage unbedingt unterstützen sollten. Und dies aus zwei kardinalen Gründen: Erstens besteht offenbar nur im Falle einer solchen Einigung die Chance, dass das neue Hilfspaket des Präsidenten für die Ukraine von der Legislative noch rechtzeitig genehmigt wird. Und zweitens wird eine Verständigung zur Finanzierung höherer Ausgaben bei der Migrationskontrolle auch Biden im anlaufenden Wahlkampf einige Entlastung gegenüber dem Vorwurf bringen, er kümmere sich nicht um dieses innenpolitisch brisante Thema.
Bei diesen beiden Themenbereichen, der Ukraine-Hilfe und der Migrantenfrage an der Südgrenze, würde Biden wahrscheinlich in der bevorstehenden Hochphase des US-Wahlkampfjahres ziemlich hilflos dastehen, wenn es ihm nicht gelänge, die beiden Komplexe durch einen Kompromisshandel im Kongress zu entschärfen. Die Demokraten haben daher allen Grund, die Kröte verschärfter Kontrollmassnahmen an der Grenze zu Mexiko zu schlucken. Sie leisten damit auch der schwer bedrängten Ukraine und ihren europäischen Nachbarn einen grossen Dienst.