Eines der spannendsten Interviews, das ich in letzter Zeit gelesen habe, findet sich in der jüngsten Schweiz-Ausgabe der «ZEIT». Da besuchen die Journalisten Matthias Daum und Sarah Jäggi den 86-jährigen Peter Bichsel an seinem Wohnort in Bellach und befragen ihn ausführlich zum Zustand der Schweiz. Peter Bichsel war zeitlebens das, was man einen kritischen Patrioten nennen möchte. Dem Land eng verbunden, ihm zeitweilig auch ganz direkt dienend (als Redenschreiber für seinen Freund, Bundesrat Willi Ritschard zum Beispiel), hat er Schweizer Zustände, Schweizer Entwicklungen immer auch scharfsinnig kritisiert – auf literarisch brillante und erst noch unterhaltsame Art.
Wie seine Kollegen Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Adolf Muschg ist Bichsel im Alter nicht milder, sondern radikaler geworden. Und wie den drei Genannten verdanken wir auch seiner Radikalität ebenso mutige wie schonungslose Aussagen, Analysen, die sich, auch wenn sie gelegentlich übertrieben sein mögen, erfrischend vom Klein-Klein-Politisieren, das uns bis zum Ueberdruss serviert wird, abheben und zum Nachdenken zwingen.
Besagtes «ZEIT»-Interview bietet dafür ein gutes Beispiel. Der Autor hat das Gefühl, in einem «demokratischen Land ohne Demokraten» zu leben, er beklagt den Niedergang der Parteien, die allgemeine Verbeamtung, die Kapriolen eines zu starken Föderalismus. Er glaubt nicht an das, was uns in den letzten Monaten so viele Kolumnistinnen und Leitartikler einreden wollten, dass nämlich die Schweiz nach ausgestandener Pandemie zu einer neuen Art von Solidarität, zu einem neuen Humanismus finden würde. Dass ihm jemand ein vermeintliches Kompliment macht, indem er behauptet, die 1969 unter dem Titel «Des Schweizers Schweiz» publizierten Aufsätze seien brandaktuell, könnte ihn dazu bringen «loszuheulen», heisst es doch nichts anderes, als dass sich in 50 Jahren politisch nichts verändert hat in unserem Land.
Bichsel, der angibt, ausschliesslich Frauen in politische Ämter zu wählen, weil er das traditionelle männlich dominierte Politisieren satt hat, beschränkt seine Gefühle für das Wesen der Schweiz auf die Tour de Suisse und den Fussball – aber diese zum Schluss des Interviews geäusserten Provokationen braucht man nicht ganz ernst zu nehmen. Der Autor versucht sich mit «untauglichen Argumenten» wie er sagt, zu trösten über den für ihn lamentablen Zustand einer Schweiz, die er ein Leben lang befragt, kommentiert hat – und die ihn, trotz (oder wegen) allem, immer auch inspiriert hat.