Jahrelang hatte der bolivianische Präsident Evo Morales sein Land erfolgreich regiert, hatte es wirtschaftlich vorangebracht und gesellschaftlich entwickelt, indem er den in Bolivien stark vertretenen, häufig diskriminierten indigenen Völkern zu ihren Rechten verhalf. Am Chaos, am Machtvakuum, das er nach seinem erzwungenen Rücktritt hinterlässt, ist er indessen mitschuldig. Der Vorwurf, eine in der Verfassung nicht vorgesehene vierte Amtszeit mit juristischen Tricks forciert zu haben, und der Verdacht auf Wahlmanipulation wiegen schwer; sie haben ihm das Amt gekostet.
Zur Zeit ist die Lage im Land ganz unübersichtlich. Anhänger und Gegner des im mexikanischen Exil weilenden Ex-Präsidenten beschimpfen und bekämpfen sich, das Militär wartet ab, und die selbsternannte Interimspräsidentin Jeanine Añez versucht mit allen Mitteln, sich Respekt zu verschaffen.
In einer ihrer ersten Amtshandlungen hat sie etwas getan, was geeignet scheint, den Unfrieden im Land erst recht zu schüren. Statt die Parteien zu beschwichtigen, giesst sie mit einer symbolträchtigen Aktion Öl ins Feuer. Vor laufenden Kameras trägt sie mit triumphalen Gebärden eine grosse Bibel in den Präsidentenpalast. Die Botschaft ist klar: Gottesfurcht, Bibeltreue sind angesagt, Bolivien muss aufs Neue christianisiert werden.
Die Art des Auftritts der Interimspräsidentin lässt vermuten, dass es sich weniger um katholische Religiosität handelt, die verkündet wird, als um die in Lateinamerika weit verbreitete evangelikale. Die hat missionarische Ansprüche, zudem sektiererische Züge und kommt aus dem ungeliebten Nordamerika. Morales, selber indigenen Ursprungs, hatte der ethnischen Religion der Eingeborenen einen Platz in der Gesellschaft eingeräumt und so ein sowohl politisches wie ethisches Gegengewicht zum Christentum der meist weissen, von europäischen Einwanderern abstammenden Bürgern geschaffen. Jeanine Añez kommt aus einer solchen Familie. Wenn sie jetzt mit biblischen Provokationen versucht, ihren Machtanspruch zu legitimieren, wird sie noch mehr Zwietracht säen und verheerenden Sturm ernten.