Ende letzter Woche hat die SVP ihre „Selbstbestimmungs-Initiative“ mit 115 000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Rechtsunsicherheit und Schwächung des Bundesgerichts wie des Europäischen Gerichtshofs sind unter anderem offensichtlich bewusst anvisierte Ziele. Ausgerechnet die „Volkspartei“ versucht einmal mehr, frühere Volksentscheide auszuhebeln.
Augenwischerei
„Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor“, verlangt der neuste Vorstoss der SVP gleich im ersten Paragraphen. Würde „Schweizer Recht statt fremde Richter“, wie sich die Initiative populistisch nennt, angenommen, müsste sich künftig ausländisches Recht nicht nur schweizerischem Recht anpassen, sondern bereits bestehende Abkommen müssten allenfalls gekündigt oder neu verhandelt werden.
Mit der Initiative reagiere die Partei unmissverständlich auf die „inakzeptable Einmischung des Parlaments, der Regierung, der Verwaltung, der Justiz und der Rechtslehre in die verfassungsmässige Rechtssetzung“, begründet SVP-Präsident Albert Rösti die Initiative.Die Rechtssetzung sei „alleine Sache des Volkes und der Stände“.
Dies ist Augenwischerei. Unser Land, immerhin Depositärstaat der Genfer Konvention, würde damit – einmal mehr – bei der Völkergemeinschaft in eine unglaubwürdige Situation manövriert. Bereits jetzt stehen wir vor der Tatsache, dass sich die Masseneinwanderungs-initiative nicht im Wortlaut umsetzen lässt und die – vom Souverän ganz klar abgelehnte – Durchsetzungsinitiative unserem Land international beträchtlichen Imageschaden zugefügt hat.
„…zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“
Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist unsere schweizerische Gesetzeshierarchie nicht bestritten: Ratifiziertes internationales Recht geht vor Bundesrecht, dieses vor Kantonsrecht und dieses wiederum vor Gemeinderecht. Dies will die SVP-Initiative nun ändern: Schweizerisches Bundesrecht soll vor internationales Recht gestellt werden. Es wird zwar eine Ausnahme vorgesehen, wenn es sich um „zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“ handelt. Doch was heisst das im konkreten Fall?
Zwingendes Völkerrecht (lus cogens) bezeichnet fundamentale Regeln des Völkerrechts, ist sozusagen der „harte Kern“ im Völkerrecht. Diese Regeln dürfen nie gebrochen werden und können ihrer zentralen Bedeutung wegen nur durch neues, zwingendes Völkerrecht aufgehoben oder geändert werden. Verträge, die dem zwingenden Völkerrecht zuwider laufen, sind nichtig. Es ist also eine Selbstverständlichkeit, dass die eingereichte Initiative nicht dagegen verstossen kann.
Der Haken ist allerdings, dass „zwingendes Völkerrecht“ nicht in einer abschliessenden Aufzählung erfasst wird, sondern sich eher aus allgemein anerkannten Gewohnheitsrechten ableitet. Darunter fallen Gewaltverbot, Folter, Verbrechen gegen die die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Genozid, Apartheid, Sklaverei und Piraterie.
Europäische Menschenrechtskonvention EMRK
Der Europarat beschloss am 10. Dezember 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag und richtete 1959 zur Kontrolle der Einhaltung den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein. Die Schweiz ist seit 1963 Mitglied des Europarates und trat 1974 der Europäischen Menschenrechtskonvention bei, die minimale Standards verankert. Immer wieder wird dieses europäische Gericht als „fremde Richter“ bezeichnet. Die Schweiz hat aber in Strassburg permanent zwei Sitze und ist dort integriert. Entgegen eines allgemein vorherrschenden Eindrucks sind jedoch die allermeisten Klagen gegenüber der Schweiz abgewiesen worden. Die ausgesprochenen negativen Urteile gegen unser Land machen bloss 1,6 Prozent der Klagen aus! Soviel zu den „fremden Richtern“.
foraus-Kritik: „Irrungen und Wirrungen“
Bis die „Selbstbestimmungsinitiative“ zur Abstimmung kommt, wird es noch geraume Zeit dauern. Der Text hat allerdings schon jetzt mehrere Parteien und Verbände mit kritischen und warnenden Kommentaren auf den Plan gerufen. So hat der aussenpolitische Think Tank „foraus“ bereits vor Einreichen des populistischen Vorstosses in einer eben publizierten Studie seine Vorbehalte formuliert. Dabei gehe es um eine rein juristische und keineswegs politische Betrachtungsweise, betont das Forum.
„Die Initiative versucht ein Produkt zu verkaufen, das es nicht gibt“, lautet die generelle Kritik der foraus-Juristen. Weder sei es möglich, verbindliche völkerrechtliche Verträge durch nationales Verfassungsrecht abzuschwächen, noch sei es opportun, von Bundesrat und Parlament genehmigte Staatsverträge zu kündigen. Zudem sieht die von der Schweiz ebenfalls unterzeichnete Wiener Vertragsrechtskonvention vor, dass Verträge einzuhalten sind („pacta sunt servanda“) und sich ein Staat bei der Umsetzung von Völkerrecht nicht auf sein innerstaatliches Recht berufen kann (Art. 27).
Einheit der Materie verletzt
Der Vorstoss beinhalte aber weitere Widersprüche, logische Fehler und berge Gefahren. Die Initiative „schwächt den Schutz der Grund- und Menschenrechte und durch ihre Widersprüche und die Unklarheiten bringt sie mehr Rechtsunsicherheit, als dass sie Klarheit schafft“, schreibt der Autor der Studie, Guillaume Lammers. Lammers ist Doktor der Rechtswissenschaften und spezialisiert auf Fragen zum Verhältnis direkte Demokratie und internationale Abkommen. Seine Ausführungen wurden von vier weiteren Rechtsexpertinnen und -experten begleitet.
Wie schon bei der Masseneinwanderungsinitiative und erst recht bei der abgelehnten Durchsetzungsinitiative werde auch bei der „Selbstbestimmungsinitiative“ die Einheit der Materie verletzt: Wer die Hauptforderung unterstützt, stimme nicht automatisch den (verschleierten) Konsequenzen zu. Hätte die Schweiz – wie andere Länder – ein Verfassungsgericht, würde die neuste SVP-Initiative von diesem höchstwahrscheinlich gar nicht zur Abstimmung zugelassen.
Naivität oder Hinterhältigkeit?
Eine Initiative, die Unsicherheit bringt, im Widerspruch zum Völkerrecht steht, kaum umsetzbar ist, das Image der Schweiz beschädigt und zudem einen irreführenden Titel trägt: Sind ihre Schöpfer juristisch derart unfähig oder in ihrer Absicht derart hinterhältig? Letzteres muss angenommen werden. Die Juristen um ihren polit-juristischen Mentor SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt können unmöglich ein solches Machwerk unbeabsichtigt derart fehlerhaft kreiert haben. Offensichtliche Rechtsunsicherheit, politischer Druck auf Bundesrat, Lausanner und Strassburger Richter und Abbau von Völker- und Menschenrechten kann nur absichtlich und gewollt sein.
Offenbar sind bei der SVP noch immer Altideologen beflügelt vom Erfolg der damals (zwar nur knapp angenommenen) Masseneinwanderungsinitiative und haben noch immer nicht verstanden, dass das „dumbe Volk“ sehr wohl merkt, wann der Bogen überspannt wird. Aus der massiven Abfuhr bei der Durchsetzungsinitiative scheinen sie noch nicht genug gelernt zu haben.
Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen nationalem und internationalem Recht sei auf folgende neuste Publikation hingewiesen:
Daniel Högger, Cristina Verones (Hrsg.), Völkerrecht kompakt. Eine komplexe und für die Schweiz bedeutsame Materie kurz und verständlich erklärt, 176 Seiten, NZZ libro 2016