Heute, Freitag, hat die SVP wieder eine Volksinitiative eingereicht, die Verfassungskennern ernste Sorgen bereitet. Die Zürcher Rechtsprofessorin Helen Keller – seit Jahren Schweizer Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – hat zusammen mit drei Fachassistenten ihres Lehrstuhls die Initiative in drei Aufsätzen gründlich analysiert (Aktuelle Juristische Praxis, Hefte 6,7,8 im Jahr 2016). Keller erkennt darin eine „Volksinitiative neuer Generation“, die nicht mehr nur einen Teilmangel beheben, sondern einen Umbau von Rechtstaat und Rechtskultur erzwingen will.
Gefährdetes Renommé der Schweiz
Ähnliches war dieses Jahr bereits über die SVP-„Durchsetzungsinitiative“ zu sagen: Dank eines beispiellosen „Aufstands der Zivilgesellschaft“ konnte in letzter Minute eine krasse Verschärfung des Ausländerrechts besonders zulasten der Secondos abgeblockt werden.
Diesmal ist der Zeitdruck etwas geringer. Bis zur Volksabstimmung dauert es wohl mindestens zwei Jahre, weil sich zuerst Bundesrat und beide Parlamentskammern über die Initiative beugen und ihre Empfehlungen abgeben werden. Man darf deutliche Worte erwarten, denn gefährdet ist das Renommé der Schweiz bis in die wirtschaftlichen Beziehungen hinein – gerade dort also, wo die Schweiz als mannigfach profitierendes Nichtmitglied der EU immer wieder Vorurteile abbauen muss.
Vorrang des Völkerrechts
Eine Schwierigkeit für die Mobilisierung von Gegenkräften besteht darin, dass die Materie auf den ersten Blick aus kompliziertem „Juristenfutter“ besteht: Fünf Verfassungsbestimmungen, teils mit an sich verpönter Rückwirkung, sind für die Bürgerschaft zu beurteilen; dreinredende „ausländische Richter“ gelten als Schreckbild seit 1291; auch Schweizer Honoratioren wie Justizministerin Sommaruga haben den Strassburger Gerichtshof schon um mehr Zurückhaltung bei der Rüge nationaler Höchsturteile gebeten.
Die „Selbstbestimmungsinitiative“ der SVP postuliert, dass die Bundesverfassung in jedem Kollisionsfall über dem Völkerrecht steht. Das ersetzt die bisher etwas komplizierte Abwägung, dass Schweizer Recht traditionell „völkerrechtsfreundlich“ auszulegen ist und Völkerrecht grundsätzlich eher Vorrang hat – ausser wenn der Schweizer Verfassungsgeber klar, etwa in politischen Fragen, den Vorrang der helvetischen Lösung betonte. Bisher galten laut Bundesverfassung die nationale und die internationale Rechtsordnung als „gleichermassen massgebend“, schreibt Keller. Für seltene, durch Auslegung nicht eindeutige Lösungen von Kollisionen verblieb so ein „gewisser Spielraum“.
Von der Unklarheit ins Chaos
Jetzt will die SVP eine „Hierarchisierung“ zugunsten der Bundesverfassung. Künftig würden nur noch völkerrechtliche Verträge vorgehen, deren Genehmigung dem Referendum unterstanden hat. Unklar: Die SVP-Initiative sagt nicht, ob ein Referendum stattgefunden hat oder hätte stattfinden können. Diese Unklarheit dürfte zunächst einmal in ein Chaos münden, und zwar wegen der Rückwirkungsklausel.
Denn bei Annahme der Initiative müssten alle bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen daraufhin untersucht werden, ob sie dem künftig vorgehenden Verfassungsrecht entsprechen. Nachträgliche Vorbehalte sind nach internationalem Vertragsrecht unzulässig; Neuverhandlungen setzen voraus, dass auch die andere Seite – bei multilateralen Verträgen die Gemeinschaft aller Partner – mit der Weiterverhandlung einverstanden ist. Andernfalls bleibt nur die Kündigung, soweit es sich überhaupt um einen kündbaren Vertrag handelt.
Das ist etwa beim menschenrechtsträchtigen Uno-Pakt II, der dem Staatsvertragsreferendum unterstanden war, nicht der Fall. Aber auch sonst ist die Kündigung nach internationalem Vertragsrecht ein Jahr im voraus anzukündigen. Ein Staat kann sich auf keinen Kündigungsgrund berufen, den er selber – wegen rein nationaler Gesetzesänderung – verursacht hat. Das könnte selbst einen Kündigungserfolg illusorisch machen – abgesehen vom Renomméverlust, den ein solches Gezerre mit sich brächte.