Stattdessen wird darüber diskutiert, wann man aus Afghanistan abziehen könne. Es war Obama, der darauf bestand, für den von ihm übernommenen Krieg in Afghanistan ein Enddatum festzulegen. Als er sich nach längeren inneren Diskussionen innerhalb seiner neuen Regierung entschloss, eine bedeutende Verstärkung der amerikanischen Truppen in Afghanistan anzuordnen, liess er gleichzeitig ankündigen, ab August 2011 werde der Rückzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan beginnen.
Er tat diesen in einem Krieg eher ungewöhnlichen Schritt gewiss in erster Linie, weil er sich an die Lage in Vietnam erinnerte. Dort hatten die amerikanischen Militärs immer neue Aufstockungen der Truppen gefordert. Die Präsidenten waren ihrem Drängen immer wieder nachgekommen, bis klar wurde, dass die amerikanische Bevölkerung diesen Krieg nicht mehr billigte und noch weniger unterstützte. Worauf eine Niederlage unvermeidlich wurde.
Ein Schlusspunkt für Generäle
Diesmal wollte der Präsident seinen Generälen von vornherein klar machen, dass diese Dynamik nicht wieder in Gang gesetzt werde. Genau das aber ist geschehen. Es ist zumindest im nächsten halben Jahr nicht daran zu denken, dass die Amerikaner ihre Rolle in Afghanistan aufgeben und das Land von der Karzai Regierung erfolgreich übernommen und abgesichert werden könnte.
Ein neuer Endtermin, bis zu dem das geschehen könnte, wurde festgelegt. Zuerst durch Karzai selbst, dann übernahmen ihn die Nato Sprecher, und zuletzt wurde er in der jüngsten Nato Konferenz von Lissabon endgültig abgesegnet. Man hofft nun, dass es bis 2014 soweit sein könnte.
Glücklicherweise war ja der frühere Termin auch schon etwas elastisch formuliert worden: "mit dem Abzug beginnen". Dies wird nun in der neuen Formel übernommen und damit klar gestellt und auch offen erklärt, dass dieser Termin eine Zielvorstellung sei, der man hoffe nachkommen zu können. Er bedeute jedoch nicht unbedingt, dass der Abzug sofort vollständig werde und noch weniger, dass mit ihm die Rolle der fremden Beschützer und Mentoren der Karzai Regierung endgültig zu Ende gehe.
Hat das "Endspiel" begonnen?
Dass Obama überhaupt auf solchen Endterminen besteht, wurde von seinen Kritikern (die heute Legion geworden sind) von Beginn an als ein Fehler bezeichnet. Solch ein Termin, hoben sie hervor, ermutige die Taleban zum Durchhalten. Was wohl zutreffen könnte, wenn man auch fragen kann, ob die Taleban nicht ohnehin dermassen entschlossen seien, zu kämpfen, was immer geschehen mag, dass sie solcher Hoffnungen nicht besonders bedürfen.Obama war es jedenfalls wichtiger, seinen Generälen ein klares Zeichen zu setzen, als seinen Feinden den Eindruck zu vermitteln, Amerika werde den Krieg auf unbestimmte Zeit hinaus führen, koste das, was es wolle.
Das Zeichen hatte Wirkungen. Der Eindruck entstand, der Krieg befinde sich in seiner Endphase. Auf allen Seiten gab es Überlegungen, wie das "Endspiel" geführt werden könne. Dazu gehörten nicht nur die Hauptantagonisten, die Taleban und die Amerikaner, sondern auch die am Rande Beteiligten, allen voran die Pakistani, aber auch die Nato Länder und die nahen und entfernteren Nachbarn Afghanistans, Iran, Indien, China, die zentralasiatischen Staaten und Russland.
Auch die Versuche, mit den Taleban oder mit Einzelgruppen, die auf Seiten der Taleban stehen (die von Haqqani und Hikmatyar wurden genannt) ins Gespräch zu kommen, gehörten zu den Massnahmen, die als ein Teil des "Endspiels" ergriffen wurden, sowohl von den direkt Beteiligten wie auch von Pakistan, manchmal unter Vermittlung durch Saudi Arabien. Im Falle des Präsidenten Karzai ging das soweit, dass der Präsident in Augenblicken des Zornes äusserte, er gedenke, sich mit den Taleban zu verständigen, wenn die Amerikaner ihm zuwider handelten. Karzai hat das wohl auch versucht, doch musste er feststellen, dass die Taleban nicht besonders erpicht darauf waren, sich ihrerseits mit ihm zu verständigen. Jedenfalls nicht, solange die Amerikaner und die Nato im Lande stehen, um ihn zu stützen.
Wer verwirklicht die Selbstbestimmung der Afghanen?
Die Überlegungen, wann der Krieg zu Ende geht und wie ein erträgliches Ende herbeigeführt werden könnte, dauern an. Was auch die Frage aufwirft, worin denn ein erträgliches Ende bestehen könnte. Dieses wird nun so skizziert: Die Afghanen müssten in die Lage versetzt werden, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen und auch die Verwirklichung ihrer Zukunftsvisionen in die Wege zu leiten.
Allerdings: Wer sind "die Afghanen"? Auch die Taleban sind Afghanen. Dass die Karzai Regierung für "Afghanistan" zu sprechen vermag, ist angesichts der korrupten Wahlen sowohl des Präsidenten selbst wie auch des immer noch nicht endgültig gewählten Parlamentes, mindestens fraglich. Die Wirklichkeit dürfte so aussehen, dass die verschiedenen Ethnien Afghanistans, Paschtunen, Tajiken, Hazara, Turkmenen unterschiedlicher Gruppen, divergierende Ansichten darüber haben, was mit ihrem Lande geschehen soll.
Man kann vermuten, dass sie alle nur in einer Hinsicht übereinstimmen, nämlich darin, dass jeder von ihnen glaubt, ihre Gemeinschaft habe das Land zu regieren. Zumindest will sich niemand irgendeinem anderen unterordnen. Besonders unnachgiebig ist das bisherige Staatsvolk, die Paschtunen, die den Taleban hauptsächlich darum zuneigen, weil sie von ihrer Machtergreifung erhoffen, wieder ans Ruder zu gelangen.
Karzai, unwahrscheinlicher Nachfolger der Amerikaner
Daher ist der Ausgang des Endspiels offen. Heute sieht es so aus, als ob die Karzai Regierung sich nicht einen Tag lang zu halten vermöchte, wenn die Amerikaner abzögen. Ihre verlängerte Präsenz zielt in Wirklichkeit darauf ab, die Macht Karzais soweit zu festigen, dass er nach ihrem Abzug zunächst ("for a decent interval", sagte einst Kissinger vergeblich im Falle Vietnams) an der Macht zu verbleiben vermöchte.
Er könnte die Macht dann womöglich unter geregelten Umständen und Mitsprache der Bevölkerung abgeben - doch dafür würden die Amerikaner und ihre Verbündeten keine Verantwortung mehr übernehmen. Es gibt heute schon Beobachter, die daran zweifeln, dass dreieinhalb Jahre genügen, um dies zu ermöglichen. Deshalb wird schon heute betont, dass das Jahr 2014 nur der Anfang vom Abzug sein kann. Man hoffe es nicht, aber erachte es als denkbar, dass längere Zeiträume benötigt würden.
Doch wieder die Taleban?
All dies macht deutlich, dass die Karzai-Regierung im Zentrum des "Endspiels" um Afghanistan steht. Es geht dabei um ihr Überleben. Diese Problematik markiert die Schwäche der alliierten Position. Karzai hat gezeigt, dass er Afghanistan nicht regieren kann, und er zeigt es jeden Tag deutlicher. Zugegeben, ein Mann, der das vermöchte, ist seit dem Putsch gegen die Monarchie durch Daoud Khan Durrani vom Jahre 1975 nicht mehr gefunden worden.
Das Problem liegt nicht nur in einer geeigneten Führung. Vielmehr wäre ein Staat Afghanistan zu schaffen, der wieder regierbar ist. Für das "Nation Building" jedoch wollen die Amerikaner nicht verantwortlich sein. Denn sie wissen sehr wohl, dass dies nicht vier Jahre, sondern fünfzehn, zwanzig oder noch mehr in Anspruch nehmen kann.
Die Zerstörung des Staates Afghanistan hat - bisher - 35 Jahre gedauert, und man möchte vermuten, dass es einfacher sei, eine Nation zu zerstören als sie aufzubauen. Selbst wenn sie es wollten, könnten die Amerikaner das "Nation Building" mit den Methoden, die sie heute anwenden, schwerlich durchhalten. Sie geben Milliarden aus, ohne nennenswerte Effekte zu erzielen.
Das bedeutet für das "Endspiel", so unerfreulich das klingen mag, dass auch in vier Jahren das politische Überleben des Karzai Regimes nach Abzug der Amerikaner kaum gewährleistet ist. Wenn es die Taleban bis dahin überhaupt noch gibt, werden sie vermutlich im Zeitpunkt des Abzugs der Amerikaner die Macht übernehmen.