Die Bevölkerung in China, dem bisher bevölkerungsreichsten Land der Welt, ist im Abnehmen begriffen. Viele Kommentatoren betrachten diesen Trend wegen der sich abzeichnenden Überalterung der Gesellschaft als gefährlich für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Andere Stimmen begrüssen den Bevölkerungsschwund als gute Nachricht für unseren Planeten und die nachhaltige Sicherung der Naturressourcen. Wer hat recht?
Mitte Januar gab das chinesische Statistikamt die Zahl der Gesamtbevölkerung des Landes für Ende 2022 mit 1,4 Milliarden Einwohnern an. Das sind 850’000 Menschen weniger als ein Jahr zuvor. Dieser erstmals seit Jahrzehnten angegebene Bevölkerungsschwund im bisher bevölkerungsreichsten Land der Welt ist weitherum in den Medien kommentiert worden – häufig im Zusammenhang mit der Meldung, dass Indien noch im laufenden Jahr China bevölkerungsmässig überholen wird. Laut Uno-Prognosen wird Indien bis zur Mitte dieses Jahrhunderts über 1,6 Milliarden Menschen zählen. In China dürften dann nur noch 1,3 Milliarden Einwohner wohnen, die zudem im Durchschnitt erheblich älter sein werden als in Indien.
Mangel an Arbeitskräften?
Interessanterweise ist der Tenor vieler Kommentare in unseren Breitengraden zum chinesischen Bevölkerungsrückgang eher bedenklich bis sorgenvoll eingestimmt. Weil mit der insgesamt abnehmenden Geburtenzahl gleichzeitig die Lebenserwartung der Chinesen markant angestiegen ist, wird auf die am Horizont sich abzeichnende Schrumpfung der arbeitenden Bevölkerung, den Mangel an Arbeitskräften und das überproportionale Anwachsen der pensionierten Chinesen verwiesen. Die Betreuung der Alten ebenso wie die Ausbildungskosten für Kinder bedeute für jüngere Familien in China häufig eine starke finanzielle Belastung. Dies wiederum dürfte den Trend zu den sehr niedrigen Geburtenraten weiter beeinflussen. Dabei hat die chinesische Regierung 2016 das zuvor jahrzehntelang verhängte Diktat der Einkind-Familie aufgehoben. Seit 2021 wird sogar die Dreikind-Familie als Vorbild propagiert und durch verschiedene Subventionsprogramme begünstigt.
Aber gefährdet die abnehmende Bevölkerungszahl tatsächlich die Fortsetzung des phänomenalen wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas und die damit verbundene Verbesserung der Lebensverhältnisse von Abermillionen seiner Bevölkerung? Viele Beobachter sehen das so, insbesondere jene, die aus vorwiegend ökonomischer Perspektive urteilen. Aber man kann auch nicht wenige andere Meinungen vernehmen.
«Eine gute Nachricht für den Planeten»
So etwa schreibt ein Leser in der Online-Kommentarspalte des NZZ-Berichts zum Thema des chinesischen Bevölkerungsschwunds: «Wieso soll das ein ‘gefährlicher Trend’ sein? Der zügellosen Vermehrung der Menschheit sollte endlich mal etwas entgegengesetzt werden. Die Chinesen sind die einzigen, welche sich dem Thema stellen.» Ein anderer Leser meint ebenso: «Das ist eine gute Nachricht für unseren Planeten. Der kann nicht unbegrenzt bevölkert werden.» Und ein dritter fragt: «Bisher wurde das Bevölkerungswachstum doch als eine der Ursachen für alle Übel dieser Welt angesehen – hat sich das jetzt geändert?»
Natürlich hat auch diese Sicht der Dinge erhebliches Gewicht. Ein hohes Bevölkerungswachstum, das wird kaum bestritten, schafft zumindest auf kürzere Sicht drastischere und dramatischere Probleme als eine stagnierende oder rückgängige Einwohnerzahl. Man kann das vor allem in Entwicklungsländern im südlichen Afrika wie Nigeria, Ägypten, Äthiopien, der Republik Kongo, aber auch in Indien, Pakistan oder den Philippinen erkennen. Hätte China in den 1970er Jahren nach dem Tod von Mao Zedong nicht die Einkind-Politik (die allerdings nie völlig konsequent durchgesetzt wurde) eingeführt, wäre im Reich der Mitte das atemraubende Entwicklungstempo der letzten 40 Jahre wahrscheinlich nicht möglich gewesen.
Zudem muss man sich vor Augen halten, dass sinkende Geburtenraten auch in anderen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften Realität geworden sind, etwa in manchen Ländern Europas, in Russland und vor allem in Japan. Auch in diesen Ländern ist die durchschnittliche Geburtenrate unter 2,1 Kind pro Frau gesunken, die für eine stabile Bevölkerungszahl notwendig ist. Um den durch eine solche rückläufige Entwicklung drohenden Mangel an Arbeitskräften und mögliche Einbussen des Lebensstandards zu verhindern, lassen sich folgende Rezepte einsetzen: Einwanderung von Arbeitskräften, höhere Produktion pro Arbeitskraft durch Innovation sowie Erhöhung des Rentenalters.
Uno-Prognose zum Höchststand der Weltbevölkerung
Doch alle diese Kompensationsmassnahmen lassen sich keineswegs problemlos herbeizaubern und in die Tat umsetzen, wie die starken politischen und sozialen Widerstände gegen zusätzliche Einwanderung in fast allen Ländern und ebenso gegen eine Erhöhung des Rentenalters (siehe Frankreich, Schweiz) zeigen. Auch der Einsatz von Robotern und Maschinen zum Beispiel zur Betreuung der zunehmend hochbetagten Bevölkerung dürfte an manche Grenzen stossen.
Bleibt als weitere denkbare Konsequenz aus rückläufigen Bevölkerungszahlen und abnehmenden Wirtschaftsleistungen noch die Möglichkeit des Verzichts auf bestimmte Wohlstandserrungenschaften, die inzwischen auch in China weiterverbreitet sind – zum Beispiel in Sachen Mobilität, der Nahrungsmittelvielfalt oder dem medizinischen Angebot. Wie solche Umbrüche praktisch und ohne gewaltsame oder gar kriegerische Turbulenzen zu verwirklichen wären, ist vorläufig wohl eher in den Sternen zu suchen als in greifbaren Fallbeispielen.
Global gesehen scheint das Schreckwort von der «Bevölkerungsexplosion» jedenfalls eine begrenzte Zukunft zu haben. Der jüngste Uno-Bericht zur Bevölkerungsentwicklung rechnet damit, dass ab den 2080er Jahren mit 10,4 Milliarden die höchste Zahl von Erdenbewohnern erreicht sein wird. Ab 2100 soll die Weltbevölkerung langsam abnehmen. Falls diese Prognose zutrifft und die Menschheit dann immer noch existiert, wird man mit Sicherheit auch präziser beurteilen können, ob der heutige Rückgang der chinesischen Bevölkerungszahl als eine gute oder schlechte Nachricht zu bewerten ist.