Die «Nationalitätsorientierung» in der Musik ist oft eine falsche Fährte, denn diese Kunst ist ja die durch einzelne Sprachen, Glaubensrichtungen und Ideologien am wenigsten beschränkte. Trotzdem gibt es gerade auch in der Oper nationale Färbungen.
Musik ist die globale Mitteilungsform unserer Zivilisation schlechthin und von Anbeginn. Dennoch wissen wir, dass jede Nation auch im Musikbereich ihre eigenen Traditionen, Erfolge und einen Teil ihres Stolzes hat. Gerade in der Barockzeit, in welcher die damals neu entstehende Kunstform Oper ihren Siegeszug durch alle Kulturnationen Europas antrat, lässt sich gut beobachten, wie sich nationale stilistische Eigenheiten und Vorlieben auszuprägen beginnen und wie sich diese voneinander zu differenzieren und abzugrenzen versuchen.
Wenn zuerst auch die Italiener in der Nachfolge von Monteverdis «seconda pratica» für die meisten Nachbarländer im musikdramatischen Bereich dominant und stilbildend waren, ist es doch überraschend zu verfolgen, wie rasch sich eine reiche Vielfalt an unterscheidenden Stilmerkmalen bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts zwischen nationalen Eigenheiten zu etablieren vermochte. Englischer Barock – etwa von William Byrd oder Henry Purcell – ist anders und klingt anders als der französische von Lully und Rameau oder der deutsche von Telemann und Händel.
Das hängt gewiss auch mit den je eigenen handwerklichen Traditionen im Instrumentenbau zusammen. Gerade bei neu entstehenden Familien von Blasinstrumenten sind die Unterschiede frappant, und diese werden von den Hofkomponisten auch überraschend deutlich eingesetzt. Auch der Einsatz von Einzelstimmen und ihre chorische Verwendung ist sowohl in der kirchlichen wie in der weltlichen Musik etwas, an dem man unterschiedliche Praktiken und Verwendungen zwischen den Nationen ausmachen kann – was bereits in der Barockzeit zu spezifischen Stilmerkmalen in den unterschiedlichen europäischen Nationen führte.
Nach der Zeit des Feudalismus kommen in der Musik das erwachende Unabhängigkeitsstreben und die kulturellen Eigenheiten der Nationen vermehrt zum Ausdruck.
Eine noch einmal schärfere Differenzierung zwischen den Nationen wird nach dem Ende des Feudalismus in der Aufklärungszeit, Revolutionszeit und Romantik sichtbar. Dies insbesondere durch das erwachende Unabhängigkeitsstreben der kleineren Nationen von Grossmächten, aber vor allem auch durch die Entdeckung eigener kultureller Traditionen im Bereich von Volkslied und Volkstanz. Damit beginnt etwas, das sich zu einer Vielfalt nationaler Stile entwickelt, die gerade in Osteuropa zu starken identitätsfördernden Merkmalen im Musikbereich führte. Diese reichen bis weit hinein ins 20. Jahrhundert. Man denke nur an Bartók oder an Janáček.
Das Geheimnis der Stimmkulturen
Selbstverständlich spielen auch die rein sprachlichen Gegebenheiten jedes einzelnen Landes eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung der Frage, ob nationale Voraussetzungen gerade Sängerinnen und Sänger für ein bestimmtes musikgeschichtliches Repertoire prädestinieren oder im Gegenzug benachteiligen könnten. Gerade diesbezüglich gibt es bei Männern und Frauen hochbegabte Künstlerfiguren, denen es fabelhaft gelingt, das Repertoire beinahe jeder Nation so einzustudieren, dass man kaum «artikulatorische Herkunftsreste» mehr auszumachen vermag, während es daneben grossartige Stimmbegabungen gibt, bei denen man sofort jede falsche Betonung, jede zu kurze oder zu dunkle Vokalfärbung und Konsonanten-Aussprachinkompetenz anmerkt, sobald diese in einer für sie fremden Sprache zu singen gezwungen sind. So gut an den grossen Opernhäusern das Sprachcoaching für das Singen des Repertoires in der heute selbstverständlich gewordenen Originalsprache auch etabliert ist und permanent weiterentwickelt wird: Da gibt es sogar unter Musikern die hellhörigen Genies der Vielsprachigkeit und solche mit tumben Ohren, die für sprachliche Valeurs wenig Sensibilität zeigen.
Ein Meister solcher «sprachlich-universeller Alltauglichkeit» war beispielsweise der schwedische Tenor Nicolai Gedda, dem kaum ein «native speaker» in einer Aufnahme hätte nachweisen wollen, dass seine sprachliche Kompetenz im Singen unzureichend und unbefriedigend gewesen wäre. Ganz im Gegenteil etwa zu den Leistungen des stimmlich absolut grossartigen Heldentenors Placido Domingo, der in den romanischen Sprachen singend zwar in akzeptabler Weise seine spanische Herkunft zu verdecken vermochte. Sobald es aber um den deutschen oder angelsächsischen Sprachraum ging, offenbarte sich diese «Sprachtaubheit» gnadenlos. Wunderbar gesungen haben – wie man heute dank der erhaltenen Tondokumente gut nachhören kann – gewiss beide. Sprachbegabt im Sinne differenzierter Kompetenz im Sprachlichen war von den beiden jedoch nur Gedda.
Das französische Repertoire heute
Die historische Aufführungspraxis hat in Musikerkreisen auch die Sensibilität für das geschärft, was man die nationalen Stileigenheiten nennen kann. In Zeiten der leichteren und genaueren Reproduzierbarkeit von Tondokumenten gibt es sehr gute Vergleichsmöglichkeiten, die es den Hörenden erlauben, besser zu beurteilen, was beispielsweise mit der «Leichtigkeit und Wendigkeit der französischen Musen» gemeint sein könnte. Gerade bei Aufnahmen von Werken der französischen Romantik bis weit in den Impressionismus und in die Moderne hinein stellen wir heute fest, mit welch grossartiger Stilsicherheit man sich heute bei lyrischen Dramen wie im komischen Fach, ja von der Operette bis zum Vaudeville von Offenbach über Saint-Saëns zu Fauré, Chabrier, Debussy, Ravel und Poulenc den Herausforderungen stellt und so zu einer frischen neuen «musikalischen Leichtigkeit des Seins» zurückfindet, die befreiend wirkt und von nach-wagner’scher spätromantischer Schwergewichtigkeit erlöst.
Bei Werken von der französischen Romantik bis in die Moderne hinein finden die Interpretationen zu einer «musikalischen Leichtigkeit des Seins» zurück.
Auffällig sind die vielen wahrhaft bezaubernden Frauenstimmen, die sich in der jüngeren Vergangenheit durch Aufnahmen mit französischem Repertoire höchst positiv bemerkbar gemacht haben, von Nathalie Dessay zu Patricia Petibon und Veronique Gens zu den neuesten weiblichen Stars am europäischen Opernhimmel, die da heissen Sandrine Piau, Marianne Crebassa oder Sabine Devieilhe.
Als das historische Vorbild dieser Schar von weiblichen Stimm- und Stiloffenbarungen gilt die unvergessliche Südfranzösin Régine Crespin (1927-2007). Zu ihrem 90. Geburtstag und ihrem 10. Todestag erschien bei Warner Classics eine Box mit zehn CDs, auf denen sich ihr stimmliches Raffinement ebenso wie ihre sprachliche Kompetenz im französischen, italienischen und deutschen Repertoire nachhören lässt. Sie war beliebt und verehrt beim Publikum, aber auch bei grossen Dirigenten wie Ansermet, Knappertsbusch, Karajan, George Prêtre und Michel Plasson, um nur einige der Pultstars zu nennen, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Auch war sie sehr umflattert von Angeboten Wieland Wagners aus Bayreuth, die sie teils angenommen, teils abgelehnt hat – zum Beispiel jenes, dort Wagners Isolde zu singen.
«La Juive» von Jacques Fromental Halévy
Die Oper «La Juive» – die Jüdin - ist ein Werk des vielschaffenden jüdischen Künstlers Jacques Fromental Halévy (1799–1862), der insgesamt über dreissig Opern komponiert hat, von denen diese als einzige im Repertoire der Opernhäuser überlebte. Auch wenn sie heute wieder häufiger gespielt wird: Es ist eine fürchterliche mentale Belastung, wenn man sich mit diesem Werk auseinandersetzt. Sie berichtet von individuellen Schicksalen (wie ja fast immer in der Oper), die sich inmitten von Glaubenskriegen in der Zeit des Konstanzer Konzils (1414-1418) abspielten.
Damals gab es politische Neuregelungen unter den europäischen Mächten, leider aber auch Hussitenkriege, Judenverfolgungen und Inquisitionsorgien gegen Häretiker und Hexen. Kurzum Probleme, die für Besucher eines Opernhauses mit geschichtlichem Bewusstsein nicht eben unterhaltend, sondern eher belastend sein können. Will man nicht in der Oper vor allem Schönes erleben? Im genannten Werk bekommt man zwar grossartige Musik zu hören, doch erlebt man in den dargestellten Ereignissen auch Zustände, zumal nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit Hitler und dem Holocaust, die einem nach dem Opernbesuch den Schlaf rauben können.
Denn hier wird alles geboten: Ein glaubenstreuer jüdischer Goldschmied, der eine von ihm aus einer Katastrophe gerettete christliche Ziehtochter hat, die ihn verehrt. Ein verheirateter christlicher Graf, der sich als Jude ausgibt, um sich als Liebhaber dieser vermeintlichen Jüdin zu profilieren. Ein Kardinal, der von einem Juden verlangt, dass er Christ werde. - Ein interreligiöses Drama also der damaligen und von leider auch heute noch vorhandenen intoleranten Geisteshaltungen. Wir erleben Pogrome, Lynchjustiz und alles Menschenverletzende, das Gott der Menschheit verboten hat. Für den Opernbesucher bedeutet dies: Nicht mit der Verbesserbarkeit der Welt ist zu rechnen, sondern man kann allein auf die musikalische Kunst setzen, die auch der verzweifelten Not der Menschen Ausdruck zu verleihen vermag.
Bei Jacques Fromental Halévy erleben wir alles Menschenverletzende. Nicht mit der Verbesserbarkeit der Welt ist zu rechnen, sondern man kann allein auf die musikalische Kunst setzen, die der Not der Menschen Ausdruck verleiht.
Der Opernspezialist, Musikwissenschaftler und in Ideengeschichte hochversierte Ulrich Schreiber hat in seiner umfangreichen Analyse dieser Halévy-Oper – übrigens nach einem Text des für die Opernwelt produktiven Eugène Scribe – ausgeführt, wie diese als historischer Beleg dafür gelten kann, dass die damalige französische Gesellschaft des Jahres 1835 von einem christlich-bürgerlichen, geradezu strukturell antisemitisch-rassistischen Syndrom befallen war, das in Frankreich erst nach der Dreyfus-Affäre angemessen begreifbar geworden sei. Leider kann auch noch unsere Gegenwart den «strukturellen Antisemitismus und Rassismus» nicht zur Vergangenheit rechnen.
«Er wird kommen!»
Die hier ausgewählte Arie der christlichen Tochter und jüdischen Ziehtochter Rachel befindet sich im 2. Akt der Oper. Dieses Kommen und Erwarten des Geliebten ist für diese Frau so pein- und notgeladen, wie es wohl kein zweites vergleichbares in der Operntradition geben mag. «Il va venir», ja, aber Rachel ist ob dieser Begegnung angstbesessen, ihr Herz pocht. Es ist Nacht, ein Sturm zieht auf, Beklemmung nimmt sie in Besitz, sie spürt in sich Argwohn und Missfallen, eigentlich möchte sie nichts als abhauen, von ihrem Geliebten und ihrem Vater. Doch beide werden noch erscheinen, und – das erfahren wir dann erst im 5. Akt: Sie wird in jener kriegerisch-mörderischen Zeit mit ihrem jüdischen Ziehvater im Hass einer tobenden Menge einer sich für gottgefällig haltenden Christenschar sterben.
Diese Arie ist ein Seelengemälde der weiblichen Protagonistin von unglaublicher Eindringlichkeit und Schönheit. Hier gesungen von der noch nicht weltbekannten Régine Crespin in einer Aufnahme aus dem Jahr 1951. Das Orchestre Symphonique steht unter der Leitung von Jésus Etcheverry.
Manchmal fragt man sich beim Hören von Musik, wieviel Leid auf der Welt die Voraussetzung zu sein scheint für das Entstehen so unvergänglich ergreifender Musik!