Kein Jahrhundert der europäischen Geschichte hat seinen Zeitgenossen so übel mitgespielt wie das zwanzigste. Millionen von Menschen starben im Krieg, in Gefängnissen und in Konzentrationslagern. Millionen flüchteten oder wurden vertrieben, verloren Hab und Gut, litten Hunger und Entbehrung. Millionen lebten in Diktaturen und unter Zwängen, die ihre individuelle Entwicklung erschwerten oder verunmöglichten. Vielleicht erklärt diese Summe des Leidens, dass sich so viele Zeitgenossen gedrängt fühlten, ihre Memoiren zu schreiben. Man verarbeitet die Vergangenheit besser, wenn man sich und anderen davon Rechenschaft gibt.
Befreiung von den Konventionen seiner Klasse
Zu den wichtigsten Lebensberichten dieser Zeit gehört die Autobiografie, die der Engländer Bertrand Russell zwischen 1967 und 1969 in drei Bänden erscheinen liess. Russell wurde im Jahre 1872 geboren und starb 1970. Sein langes Leben überspannte mehr als zwei Drittel des Jahrhunderts. Er entstammte dem englischen Hochadel, seine Kindheit und Jugend waren geprägt von der Sittenstrenge und Doppelmoral des viktorianischen Zeitalters. Aber er befreite sich rasch von den Konventionen und Zwängen seiner Klasse und wurde zum unabhängigsten Denker seines Landes.
Betrachtet man Russells scharf geschnittene Physiognomie, wie sie Fotografien und ein schönes Portrait des Schweizer Künstlers Hans Erni festgehalten haben, denkt man unwillkürlich an Voltaire. Dem grossen Franzosen war Russell in der skeptischen Unabhängigkeit seines Urteils und im selbstlosen Engagement für Wahrheit und Gerechtigkeit nah verwandt. Und wie Voltaire schrieb er einen Stil von präziser Eleganz, der eine breite internationale Leserschaft fand.
Mathematik und Philosophie
Das Leben von Bertrand Russell, wie es in seiner Autobiografie geschildert wird, lässt sich in zwei Schaffensphasen einteilen. Bis zum Alter von vierzig Jahren befasste sich der hochbegabte junge Mann, der an den besten Schulen und von den besten Lehrern ausgebildet wurde, vor allem mit Mathematik und Philosophie. Seine beiden vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienenen Werke The Principles of Mathematics und Principia Mathematica werden in der Fachwelt noch heute geschätzt.
Von den Fachkollegen weniger gerühmt wird die History of Western Philosophy. Dem interessierten Laien bietet das flüssig und geistreich formulierte Werk jedoch noch immer den besten Überblick zum Thema und ist ein Musterbeispiel für die angelsächsische Kunst, Schwieriges verständlich auszudrücken.
Eine Art "mystischer Erleuchtung
Berühmt wurde Russell nicht durch sein mathematisch-philosophisches Werk, sondern durch rund vierzig kleinere und grössere Bücher, in denen er sich mit politischen, sozialen und ethischen Fragen von allgemeiner Bedeutung befasste. Mit solchen Schriften hatte Russell in den sechziger Jahren grossen Erfolg. Sein Name war jedem englischen Studenten ein Begriff, und vielen von ihnen wurde er zum Lehrmeister für das Leben.
Russells Entschluss, sein engeres Fachgebiet zu verlassen, war, wie er in seiner Autobiographie ausführt, eine Art von „mystischer Erleuchtung“. Man stand am Beginn des 20. Jahrhunderts. Das englische Weltreich hatte im Krieg gegen die südafrikanischen Buren einen schwierigen Sieg errungen und viel Prestige verloren. Die deutsche Flottenpolitik zwang England zur Aufrüstung.
Russell beschreibt sein Erweckungserlebnis in der Autobiographie so: „Etwas wie eine mystische Erleuchtung hielt mich eine Zeitlang in Bann. Mir war, als kenne ich die innersten Gedanken eines jeden Menschen, dem ich auf der Strasse begegnete, und wenn das zweifellos eine Selbsttäuschung war, so empfand ich mich doch tatsächlich allen Freunden und vielen meiner Bekannten weit näher als bisher. Ich war Imperialist gewesen bisher; binnen fünf Minuten wurde ich nun zum Burenanhänger und Pazifisten. Nachdem ich jahrelang für nichts Sinn gehabt hatte, als für exakte Wissenschaft und Analyse, war ich jetzt auf einmal erfüllt von halbmystischen Gefühlen über Schönheit, einem heftigen Interesse für Kinder, von einem Verlangen, fast so tief wie das des Buddha, eine Weltanschauung zu finden, die das menschliche Leben erträglich machen würde.“
Ekel vor nationaler Propaganda
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, trat Russell für die Neutralität seines Landes ein und wurde zum radikalen Pazifisten. „Ich wusste“, schreibt er in den Memoiren, „dass es meine Aufgabe sei zu protestieren, wie aussichtslos dieser Protest auch sein würde. Mein ganzes Wesen war betroffen. Als Verfechter der Wahrheit ekelte mich die nationale Propaganda aller kriegführenden Nationen an. Als Verehrer der Kultur erschreckte mich die Rückkehr zur Barbarei.“
Diese Haltung machte Russell öffentlich, er sprach an politischen Veranstaltungen, verteilte Flugblätter, verfasste Zeitungsartikel. Im letzten Kriegsjahr wurde er wegen Wehrkraftzersetzung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Später sollte Russell seinem unbedingten Pazifismus abschwören; doch der Kampf für den Frieden wurde zu einem bestimmenden Thema seines Schaffens.
In Russland und China
In den Jahren 1920 und 1921 bereiste Russell Russland und China und berichtete darüber in Büchern. Die beiden Länder hatten sich für kurze Zeit gegenüber dem Westen geöffnet und zogen viele Intellektuelle an, die ihre Zukunftshoffnungen in den kommunistischen Gesellschaftsentwurf setzten. Russell misstraute dem Machtanspruch des ideologisierten Denkens und konnte weder in der russischen noch in der chinesischen Staatsform eine brauchbare Alternative zur Demokratie sehen.
„Was mich betrifft“, schreibt er in seinem Lebensbericht, „so glich die Zeit, die ich in Russland verbrachte, einem zunehmenden Alptraum...“ In China fühlte er sich wohler. An der Nationalen Universität von Peking, wo er Vorlesungen hielt, traf er auf wissbegierige und aufgeschlossene Studenten und stellt, sich erinnernd, fest: „Nach Jahrhunderten des Schlafes wurde sich China der modernen Welt bewusst, und zu jener Zeit waren die Reformer noch frei von der Unlauterkeit und den Kompromissen, die Hand in Hand mit der Regierungsverantwortung gehen.“
Abkehr vom Appeasement, Konflikt mit Amerika
Den faschistischen und nationalsozialistischen Strömungen trat Russell mit Entschiedenheit entgegen. Zwar glaubte er noch bis zum Münchner Abkommen von 1938 an ein Appeasement, sah dann aber ein, dass einem Hitler nur manu militari beizukommen war. „Als England im Jahr 1940 die Invasion drohte“, schreibt er, „wurde mir klar, dass ich während des Ersten Weltkrieges nie ernsthaft die Möglichkeit einer völligen Niederlage ins Auge gefasst hatte. Ich fand diese Möglichkeit unerträglich und beschloss schliesslich, bewusst und endgültig das zu unterstützen, was für einen Sieg im Zweiten Weltkrieg notwendig war, wie schwer dieser Sieg auch zu erlangen war und wie schmerzlich die Folgen sein würden.“
Im Jahre 1939 reiste Russell zu Gastvorlesungen nach den USA und konnte wegen des Krieges erst 1944 nach England zurückkehren. Mit seinen unkonventionellen Stellungnahmen erregte der streitbare Atheist und Freigeist bald Anstoss: „Es kam zu einer typisch amerikanischen Hexenjagd gegen mich“, schreibt er. „Ich wurde in den gesamten Vereinigten Staaten tabu.“ Sein Verhältnis zu den USA war nun dauerhaft gestört, und die Amerikaner, die, wie schon Tocqueville feststellte, geliebt werden wollen, zahlten es ihm heim.
Nobelpreis und ziviler Ungehorsam
Nach England zurückgekehrt, befasste sich Russell zunehmend mit der internationalen Politik, die durch die amerikanisch-russische Konfrontation im Kalten Krieg und die Entwicklung der Atombombe eine neue und bedrohliche Wendung genommen hatte. Mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahre 1950 wurde er international bekannt. Grosses Aufsehen erregte seine an Weihnachten 1954 von BBC ausgestrahlte Rede „Man’s Peril“. Darin befasste sich Russell mit der Bedrohung, die von der Wasserstoffbombe ausging, welche die beiden Supermächte entwickelt hatten.
In der Folge gründete Russell die nach dem ersten Konferenzort in Kanada so genannte Pugwash-Bewegung, eine Vereinigung führender Wissenschaftler aus der ganzen Welt, welche sich in regelmässigen Zusammenkünften mit der Bedrohung durch die Massenvernichtungswaffen befasste. Doch damit nicht genug: Bertrand Russell, bald neunzig Jahre alt und noch immer rüstig, machte sich daran, den Widerstand der Massen zu mobilisieren. Neben Presse und Radio wurde nun auch die Television eingesetzt. Auch die Methoden wurden erweitert: Man störte durch „direkte Aktionen“ den öffentlichen Verkehr, rief zum „zivilen Ungehorsam“ gegen die Nuklearpolitik der Regierung auf und organisierte Massenveranstaltungen am Trafalgar Square und anderswo.
War Crimes Tribunal
Dies veranlasste den Staat zu handeln. Der bejahrte Dissident, der sich couragiert zu seiner Verantwortung bekannte, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, was wiederum, in England wie auf dem Kontinent, Massenproteste auslöste. „Obwohl ich gewiss nicht den Wunsch hatte“, schreibt Russell in seinem Lebensbericht, „mich zum Märtyrer unserer Sache zu machen, hielt ich es dennoch für richtig, von jeder Möglichkeit Gebrauch zu machen, welcher der Verbreitung unserer Ansichten nützlich sein konnte.“
Russell liess es nicht beim Protest bewenden. Er begründete die Bertrand Russell Peace Foundation, die sich mit Massnahmen zur Friedenssicherung befasste. Nach 1963 forderte der Vietnamkrieg nochmals die heftige Kritik des alten Mannes heraus. Zusammen mit Jean Paul Sartre und anderen renommierten Intellektuellen gründete er das International War Crimes Tribunal, und 1967 erschien sein Buch War Crimes in Vietnam.
Aufregendes Privatleben
Bertrand Russells Autobiographie handelt jedoch nicht nur von seinem politischen Engagement und seinem wissenschaftlichen und publizistischen Schaffen. Fast ebenso viel Raum widmet er seinem nicht minder aufregenden Privatleben. Russell war vielfach verliebt und vier Male verheiratet. Er liebte seine Kinder und entwickelte ein wenn nicht antiautoritäres, so doch neuartig liberales Erziehungskonzept.
Die Darstellung, die Russell in seinem Lebensbericht von seinen Beziehungen zum andern Geschlecht gibt, beeindruckt durch ihren Willen zu rückhaltloser Offenheit und durch das Bestreben, die jeweilige Lebenspartnerin als Persönlichkeit ernst zu nehmen. In seinem Leben wie in seinen Schriften wandte sich Russell gegen die durch einen strikten Moralkodex bestimmte Institution der herkömmlichen Ehe und die Verteufelung der Sexualität.
Drei übermächtige Leidenschaften
Die Ehe, in seiner Auffassung, war eine auf gegenseitiger Liebe beruhende Beziehung gleichberechtigter Partner, die, falls die Zuneigung erlosch, aufgelöst werden konnte. Eine Partnerschaft dieser Art schloss eine weitere Liebesbeziehung nicht aus.
In der Einleitung zu seinem Lebensbericht schreibt Bertrand Russell: „Drei einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.“ Wohl nie in der Geschichte der modernen Memoirenliteratur ist der Bildungsplan, den ein Individuum sich entwirft, so intensiv gelebt und so meisterhaft beschrieben worden.