Die neue deutsche Regierung musste angesichts des Kriegs in der Ukraine eine komplette Neuorientierung ihrer Politik vornehmen. Ob die deutsche Gesellschaft dies auf Dauer mittragen wird, ist angesichts der finanziellen, wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Kosten keineswegs sicher. Zudem sind die vordem wichtigsten Ziele und Projekte der Politik plötzlich in den Hintergrund gedrängt worden, was vor allem für die SPD und die Grünen zur Zerreissprobe werden kann.
Die ersten hundert Tage an der Regierung. Nirgendwo ist festgehalten, dass dieser kurze Zeitabschnitt irgendeine politische Bedeutung haben müsse. In keiner Verfassung, in keiner parlamentarischen Geschäftsordnung, nirgends. Und doch hat es sich eingespielt, dieses Vierteljahr einer speziellen Bewertung zu unterziehen. Besonders, wenn die dort im Rampenschlicht stehenden Personen neu auf der nationalen wie internationalen Bühne agieren. Es ist wie eine Zäsur. Mit welchen Versprechungen waren sie angetreten, und was für Erwartungen hatten sie geweckt? Welche Politikbereiche sollten im Zentrum stehen? Deutet wirklich alles auf den angekündigten völligen Neuanfang hin? Kommen womöglich ganz neue Ideen zum Tragen, von denen sich die Gesellschaft spürbar angesprochen fühlt, sich vielleicht sogar begeistern lässt?
Eiskalt erwischt
Nicht nur Deutschland und die Deutschen sind in den jetzt abgelaufenen hundert Tagen eiskalt erwischt worden. Aber es war ganz besonders dieses Land, das im Wechselbad der Gefühle von einem Extrem ins andere befördert wurde. Und zwar angefangen von den allerhöchsten Spitzen der politischen Klasse über die Eliten der Wirtschaft bis in die Breite der Bevölkerung hinein.
Der brutale russische Überfall auf die angeblich so eng verbrüderte Ukraine – obwohl in seinen verbalen wie konkret-militärischen Vorbereitungen schon vorher mindestens ein Dreivierteljahr unverhüllt erkennbar – liess sämtliche Illusionen wie Kartenhäuser zusammenstürzen. Nämlich jene Glaubenssätze, die sich die meisten im Lande zuvor liebevoll und geradezu polit-romantisch im heimischen Idyll zusammengebastelt und nicht selten mit hübschen Etiketten versehen hatten.
Eines dieser Dogmen steckte in dem Wort «Friedensdividende». Der Begriff war von Anfang an Postulat und moralisches Gebot gleichermassen. Er stand damit gleichsam für einen scheinbar unumstösslichen Tatbestand, der zudem noch vom Glauben (auf alle Fälle aber vom Appell) an das grundsätzlich Gute im Menschen unterfüttert war.
«Friedensdividende» – in dieser Vokabel vereinigen sich seit mehr als dreissig Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Spaltung Europas sowie der deutschen Wiedervereinigung die Sehnsüchte der Kriegs- und der ersten Nachkriegsgeneration nach Frieden und Völkerverständigung mit den Träumen der schon ohne Kriegserfahrungen aufgewachsenen Jungen von weltweiter Gerechtigkeit und internationaler Solidarität. Deren Credo: Egal, woher er kommt, welche Kultur ihn geprägt und welche Farbe die Haut hat – der Mensch ist in seinem Kern gut; man muss ihm nur die Chance geben, dies zu entwickeln und zu zeigen.
Schockwellen nach dem Einmarsch
Die Nachricht von Wladimir Putins Befehl zum Einmarsch seiner zuvor schon monatelang darauf trainierten Truppen in die Ukraine löste zwischen Flensburg und Konstanz sowie zwischen Rhein und Oder sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung regelrechte Schockwellen aus. Abgesehen von dem brutalen Vorgehen selbst, brachen schliesslich mit einem Mal Gewissheiten in sich zusammen, ohne deren Funktionieren ein gedeihliches, vernünftiges Miteinanderauskommen von Staaten und Gesellschaften gar nicht vorstellbar war.
Und eigentlich auch immer noch nicht ist: Vertrauen in das gegebene Wort, Gültigkeit abgeschlossener Verträge sind Bedingungen stabiler politischer Verhältnisse. Und nun mussten Männer wie Bundeskanzler Olaf Scholz oder Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron bei ihren Friedensmissionen in Moskau erleben, wie ihnen selbst dann noch schamlos ins Gesicht gelogen wurde, als sich die Fratze des Krieges längst zeigte. Wie glaubt man nach solchen Erlebnissen in Zukunft überhaupt noch verhandeln zu können?
Zurück zu den ersten hundert Tagen von Olaf Scholz und dessen rot-grün-gelber Ampel-Koalition in Berlin. Dass dieses Bündnis überhaupt zustande kommen konnte, war ja schon ein kleines Wunder an sich. Vor allem die vorher über vier Jahrzehnte genussvoll gepflegten Gegensätze der engagierten grünen Klima- und Umweltschützer und der eher staatsfernen, dafür aber wirtschaftsnahen Liberalen bedurften schon eines sehr festen Glaubens an tragfähige gemeinsame Konzepte, um die ökonomischen, technologischen, sozialen, gesellschaftlichen, umweltpolitischen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. «Mehr Fortschritt wagen», versprachen die Ampel-Partner in ihrem Koalitionsvertrag. Und eine «feministische Aussenpolitik». Ausserdem unbedingtes Festhalten an den ehrgeizigen Klimaschutzzielen, am geplanten Radikalumbau der Energiegewinnung, an der Modernisierung des Bildungswesens…
Doppelter Salto rückwärts
Klima, Energie, Digitalisierung, Wohnungsnot – natürlich ist all das nicht verschwunden. Aber die Probleme haben sich in der aktuell gefühlten Bedeutungsskala der meisten Deutschen deutlich nach hinten verlagert. Kein Wunder, denn nie zuvor ist den Menschen so unmittelbar gezeigt worden, dass in unserer Welt mittlerweile tatsächlich alles mit allem zusammenhängt und welche Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen damit verbunden sind.
Das Explodieren der Spritpreise an den Tankstellen, der Blick auf die Öl- und Gasrechnungen, ausbleibende Ersatzteillieferungen bei der Wirtschaft, dazu die grausamen Bilder aus dem Kriegsgebiet und die nicht endenwollenden Kolonnen der Flüchtenden – mit einem Mal mussten weite Teile der Deutschen fassungslos erleben, dass Pazifismus, Friedensdemonstrationen und brennende Kerzen nicht vor der schlimmsten Geisel der Menschheit zu schützen vermögen. Nämlich vor Krieg. Oder richtiger – vor Despoten, Machtbesessenheit und rücksichtsloser Gewaltanwendung.
Und die Politik? Die rot-grün-gelbe Bundesregierung hat einen doppelten Salto rückwärts vollzogen. Nicht freiwillig, sondern gezwungen vom Schock wegen Putins Überfall auf die Ukraine. Aber auch als Folge des zunehmenden Drucks der Partner in der Europäischen Union und der Verbündeten in der Nato.
Lange hatten sich die Ampel-Träger in Berlin zum Beispiel gesträubt, die gerade fertiggestellte Ölleitung durch die Ostsee nicht in Betrieb zu nehmen. Und genauso zögerlich erfolgte die deutsche Zustimmung zur Kappung der Finanzstrecken für Russland. Der zweite Salto war die Rückkehr der Deutschen zu einer Aussen- und Sicherheitspolitik, die sich nicht mehr an Wünschen, Hoffnungen und Illusionen ausrichtet, sondern an der einfachen Wirklichkeit. Man kann das auch als Kehrtwendung zum Realismus bezeichnet werden. Und das geht nicht ab ohne deutliche Anzeichen von Schleudertrauma.
Energie und Wehrbereitschaft
Dieser Blick in die Wirklichkeit ist nicht nur ernüchternd, er ist erschreckend. Und zwar vor allem deshalb, weil die realen Tatbestände ja keineswegs im Verborgenen gelegen hätten, sondern für jedermann sichtbar waren. Als vor knapp zwei Wochen Alfons Mais, der Inspekteur des deutschen Heeres, öffentlich bekundete, die Bundeswehr stehe «mehr oder weniger blank» da, war (nicht zuletzt auch in den Medien) das Erschrecken gross. Dabei war der jämmerliche Zustand der Streitkräfte seit Jahren bekannt und nicht selten Gegenstand beissenden Spottes. Ob Panzer, Schiffe oder Flugzeuge – ein Grossteil des Geräts war (und ist) nicht einsatzbereit. Gefährliche Missionen wie in Afghanistan oder Mali erforderten, dass aus allen Einheiten die überhaupt noch funktionierenden Systeme zusammengekratzt wurden.
Dafür sind keineswegs nur die heute in Berlin Regierenden verantwortlich, sondern es ist das Ergebnis der deutschen Politik seit dem Ende des Kalten Kriegs vor mehr als dreissig Jahren. Es war der CDU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der 2011 die Wehrpflicht in Deutschland aussetzte – praktisch abschaffte. Und zwar unter der Ägide der CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Die Wahrheit allerdings gebietet auch den Hinweis, dass zu jenem Zeitpunkt der Umfang der Streitkräfte vertraglich praktisch halbiert und somit eine «gerechte» Einberufung der Dienstpflichtigen nicht mehr möglich war, weil zudem weder politisch noch gesamtgesellschaftlich der Ruf nach einer allgemeinen (z. B. zivilen oder sozialen) Dienstpflicht Widerhall fand. Es war ja, so jedenfalls die breite Überzeugung, nach dem Zusammenbruch von Sozialismus und Sowjetunion der ewige Friede ausgebrochen. Wozu also noch die teuren Waffen und unproduktiven Armeen?
Wandel durch Handel
Die Zauberformel in den Folgejahren war eingängig – Wandel durch Handel. Je mehr wirtschaftliche Verknüpfungen, so die Logik, desto weniger politische (und schon gar militärische) Kollisionen. Abgesehen davon entstehen (Exportland Deutschland!) profitable Absatzmärkte und kostengünstige Produktionsstätten.
Die heutigen Erkenntnisse sind ernüchternd. Im Grunde steht man vor den Trümmern all jener Erwartungen. Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas liegt bei über 50, vom Öl bei mehr als 30 Prozent. Weil es während der Corona-Pandemie in China und anderen asiatischen Ländern zu Produktionseinbrüchen kam, fehlten den hiesigen Industrien auf einmal Einbau- und Ersatzteile. Im Übrigen führte der rapide Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen etwa in China keineswegs zu einer verbesserten Wahrung der Menschenrechte…
Die täglichen Bilder vom Kriegsgeschehen in der Ukraine haben in der deutschen Öffentlichkeit Erschrecken und Entsetzen ausgelöst. Die positive Folge – die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung – ist überwältigend. Aber wird sich auch das allgemeine Bewusstsein der Realität von Gewalt und Brutalität nähern. Nicht zufällig wohl, sondern durchaus mit Blick auf die Mentalität seiner Mitbürger hatte Goethe einst in seinem «Faust» den Satz sagen lassen: «Nichts Bessres weiss ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch zu Krieg- und Kriegsgeschrei, wenn hinten – weit in der Türkei – die Völker aufeinanderschlagen.»
Auf den Kopf gestellt
Als Bundeskanzler Scholz in seiner jüngsten Regierungserklärung 100 Milliarden Euro ankündigte, mit denen die Bundeswehr wieder «auf Vordermann» gebracht werden soll, da stockte vielen der Atem. Scholz ist Sozialdemokrat, Mitglied also einer Partei, die sich ungeachtet aller Irrungen und Wirrungen immer als «die Friedenspartei» gesehen hat.
Und der grüne Koalitionspartner! Hatte sich diese Partei nicht vor 40 Jahren gegründet wegen ihrer erbitterten Ablehnung der von Helmut Schmidt (auch SPD!) betriebenen Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen? Und jetzt stimmen deren Nachfolger dem Kauf von 35 hochmodernen und zum Transport von Atombomben geeigneten Kampfflugzeugen zu! Die auch noch bestellt werden von einer sozialdemokratischen(!) Verteidigungsministerin. Nicht zu vergessen: Noch vor wenigen Monaten lehnte es die SPD als Juniorpartner in der Merkel-Regierung rigoros ab, der Bundeswehr bewaffnete Drohnen zur Verfügung zu stellen.
Putins Krieg hat vieles auf den Kopf gestellt. Er hat Illusionen zerstört und Hoffnungen gelöscht. Doch wie weit wird die (nicht nur deutsche) Gesellschaft die neuen politischen Gegebenheiten akzeptieren? Der schreckliche Überfall auf die Ukraine ändert ja nichts an der dramatischen Klima-Situation. Es bleiben auch die sozialen Fragen und das für die Alterssicherung entscheidende demographische Problem. Nicht zufällig werden daher bereits die ersten mahnenden Stimmen gegen eine neue Wehrhaftigkeit laut. Von einer «Aufrüstung» der Bundeswehr ist die Rede. Dabei hat die längst überfällige «Ausrüstung» noch gar nicht begonnen.