Das Bestürzende an der derzeitigen Auseinandersetzung ist ihre emotionale Heftigkeit: Sie zeigt, wie wenig der Konflikt bewältigt ist, der Argentinien Mitte der siebziger Jahre in zwei Lager trennte und 30’000 Tote gefordert hat. Eine kaum verheilte Wunde ist aufgebrochen, und der Schmerz verursacht Wutausbrüche, Empörung und gegenseitige Schuldzuweisungen.
Verbitskys Behauptungen
Heftige Angriffe kommen zum Beispiel von Horacio Verbitsky, einem argentinischen Journalisten, der sich durch seine Recherchen über die Verbrechen der Militärdiktatur einen Namen gemacht hat. Eines seiner Bücher trägt den Titel: “El silencio – Von Paul VI. zu Bergoglio. Die geheimen Beziehungen der Kirche zur ESMA.” Die ESMA war das Folterzentrum der argentinischen Junta.
Verbitsky wurde international bekannt mit seinem Enthüllungsbuch “El Vuelo” (der Flug). Darin beschreibt ein ehemaliger Offizier der argentinischen Armee, wie die Junta politische Gefangene zum Verschwinden brachte, indem sie sie aus Flugzeugen vor der argentinischen Küste über dem Meer abwarf. Die Aussagen wurden später in zahlreichen Gerichtsverhandlungen bestätigt und führten teilweise zu lebenslänglichen Haftstrafen der Schuldigen.
Angeblicher Zeuge lebt in Deutschland
In einer Kolumne der Tageszeitung “Pagina12”, die dem Machtzirkel von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner nahesteht, erhob Verbitsky in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder den Vorwurf, Jorge Bergoglio sei als Oberer der Jesuiten verantwortlich dafür, dass zwei politisch links engagierte Jesuiten verhaftet und gefoltert wurden. Die beiden Jesuiten-Priester– Orlando Yorio und Francisco Jalics – arbeiteten zur Zeit der Militärdiktatur in den Armenvierteln von Buenos Aires.
Verbitsky behauptet, beide Priester hätten ihm später in ausführlichen Gesprächen bestätigt, dass Bergoglio die Schuld an ihrer Verhaftung trage. Yorio starb im Jahr 2000, Jalics lebt in Deutschland und möchte seine Anschuldigungen in seinem hohen Alter heute nicht mehr bestätigen.
Pérez Esquivel verneint Komplizenschaft
Bergoglio, der heutige Papst Franziskus, wurde seinerzeit zu der Sache vom Richter vernommen und hat alle Vorwürfe zurückgewiesen. Das Gegenteil sei der Fall: Durch seine Intervention habe er die Freilassung der beiden Inhaftierten erwirkt und sie vor weiterer Verfolgung geschützt. Bergoglio hat auch Dokumente vorgelegt, die seine Aussage untermauern. Verbitsky hingegen sagte Mitte März in Interviews, er habe Akten aus der Zeit der Militärdiktatur einsehen können, in denen Bergoglio als Informant der Militärs erwähnt wird. “Bergoglio hat ein doppeltes Spiel gespielt”, behauptet Verbitsky.
In krassem Gegensatz dazu stehen Aussagen renommierter Persönlichkeiten in Argentinien, die Jorge Bergoglio bescheinigen, er habe sich integer und anständig verhalten. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, einer der weltweit renommiertesten Menschenrechtsaktivisten, sagt, Bergoglio habe sich nichts zu schulden kommen lassen: “Es gab Bischöfe, die Komplizen waren, Bergoglio aber nicht.”
Die Verwicklungen der katholischen Kirche
Andererseits besteht heute unter seriösen Historikern kein Zweifel, dass Teile der katholische Kirche in Argentinien in aller Offenheit die Militärjunta unterstützten und zum Heiligen Krieg gegen die kommunistische Subversion aufriefen. Die Jesuiten-Universität in Buenos Aires vergab gar einen Ehrendoktortitel an ein Mitglied der Militärjunta, Admiral Emilio Eduardo Massera.
Einige Standardwerke zu den Beziehungen zwischen katholischer Hierarchie und Junta schrieb der Rechtswissenschaftler Emilio Mignone, der bereits während der Militärdiktatur als Menschenrechts-Anwalt aktiv war und unter der Junta inhaftiert wurde. Mignone wiederum gründete das Centro de Estudios Legales y Sociales, dessen Direktor heute Verbitsky ist. Politische Seilschaften sind also in diesem Fall nicht zu übersehen.
Die Fehde der Kirchners gegen den Erzbischof
Aus welcher Ecke die Angriffe gegen den Jesuiten-Oberen und späteren Erzbischof Bergoglio bisher kamen, ist für niemand in Argentinien ein Geheimnis. Der argentinische Präsident Nestor Kirchner und seine Ehefrau Cristina, die heutige Präsidentin, führten eine erbitterte Fehde gegen Bergoglio. Der Erzbischof hatte Korruption und louche Immobilien-Geschäfte angeprangert, die der Regierung Kirchner angelastet wurden. Nestor Kirchner bezeichnete Bergoglio gar als graue Eminenz, die hinter den Kulissen die Opposition gegen seine Regierung führe.
Der Disput hat aber auch rechtsgerichtete Kreise auf den Plan gerufen. Sie werfen Verbitsky vor, ein verkappter Linksextremer zu sein. Tatsächlich war der Journalist von 1973 bis 1977 Mitglied der aus dem peronistischen linken Flügel hervorgegangenen Guerrillagruppe Montoneros. Verbitsky hat seine militante Vergangenheit nie geleugnet. Er hat sich später von den Montoneros politisch distanziert. Dass er als junger Mann Montonero-Mitglied war, heisst noch nicht, dass er heute die Unwahrheit sagt oder dass seine Recherchen wertlos sind. Es zeigt nur, wie schwer es ist, zwischen den verhärteten politischen Fronten eine Annäherung an die Wahrheit zu finden.
Gescheiterte Gewaltstrategie der Montoneros
In den siebziger Jahren führten Militärregierungen in vielen Ländern Lateinamerikas einen schmutzigen Krieg gegen aufständische linke Guerrillagruppen. Die Montoneros und andere politisch-militärische Organisationen der Linken in Argentinien stellten sich im nachhinein oft als Opfer der militärischen Repression dar. Sie waren aber auch Täter. Sie begannen Anfang der siebziger Jahre einen bewaffneten Aufstand. Zum einen waren sie gezwungen, sich gegen rechtsextreme paramilitärische Gruppen zu verteidigen, die linke Oppositionelle ermordeten.
Zum andern war es ihre Strategie, durch Terror das Land zu destabilisieren und einen Militärputsch zu provozieren Sie überfielen Banken, entführten reiche Unternehmer und erpresssten Lösegeld, sie griffen Armeestützpunkte und Konvois an , erschossen Soldaten und Polizisten. Mitte März 1976 verübten die Montoneros einen Sprenstoffanschlag am Eingang des Armeehauptquartiers in Buenos Aires, bei dem nicht nur Offiziere sondern auch zahlreiche Unbeteiligte ums Leben kamen. Eine Woche später folgte der Militärputsch unter General Jorge Rafael Videla.
Einäugige Guerilla-Sympathisanten
Ich denke, dass es nicht nur für einen Jesuiten, sondern auch für gewöhnliche Argentinierinnen und Argentinier in den siebziger Jahren nicht einfach war, sich in dieser Situation zu orientieren. Auf wessen Seite man stand- auf der Seite der linken Aufständischen oder auf der Seite der Rechtsnationalen und der Armee – das war keine leichte Entscheidung. Umgehen konnte man diese Entscheidung kaum, denn ganz Argentinien geriet unerbittlich in den Sog des gewaltsamen Konfliktes.
Das Chaotische der damaligen Situation anzuerkennen, die politische Ambivalenz einzuräumen, ist für viele Linke bis heute ein Tabu. Heute sind die brutalen Säuberungen der Militärjunta bekannt, und es ist leicht, Urteile zu fällen. Die europäische und lateinamerikanische Linke kennt nur die kategorische Verdammung der Militärdiktaturen, mit der Schuld der linken Guerrilla-Organisationen tut man sich dagegen schwer.
Che Guevaras weltfremde Fokus-Theorie
Die siebziger Jahre und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Zeit der revolutionären Bewegungen und der revolutionären Utopien. Pazifisten fanden wenig Gehör, Gandhi war absolut out. Wer Reformpolitik und einen demokratischen Weg zur Macht vorschlug, der erntete nur Spott und Hohn der revolutionären Linken.
Studenten in Lateinamerika und Europa schwärmten für Che Guevara und seinen “foquismo”, die abenteuerliche Theorie vom Guerrilla-Fokus, die besagte, man müsse nur durch gewaltsame Aktionen politische Brandherde schaffen, dann würden die staatliche Repression, der Volksaufstand und die Revolution wie am Schnürchen folgen, quasi als Kettenreaktion. Eine Theorie, die nicht nur Guevara das Leben kostete, sondern fast überall grandios gescheitert ist, wo Aufständische sie in die Praxis umsetzen wollten.
Vergleich mit El Salvador
Die kommunistischen Parteien Lateinamerikas, die unter der Führung einer auf momentanen Erhalt des Status quo bedachten UdSSR bewaffneten Abenteuern skeptisch gegenüberstanden, wurden als Moskau-hörige Reformisten bezeichnet, und das war damals in Kreisen linker Revolutionäre ein schlimmes Schimpfwort.
Es wird wohl nie mit letzter Konsequenz nachzuweisen sein, wie der damalige Jesuiten-Obere Jorge Bergoglio tatsächlich zur Militärdiktatur stand. Bergoglio war sicher kein Revolutionär, sondern im Grunde seines Herzens ein Mann mit konservativen Werten.
Interessant wäre der Vergleich mit El Salvador. Die Jesuitenpadres der katholischen Universität von San Salvador – einige lernte ich persönlich bei meiner Arbeit in El Salvador kennen - stellten sich entschieden auf die Seite der Aufständischen. Fünf von ihnen wurden in einer Nacht von einem militärischen Kommando umgebracht, das unter dem Befehl von Armee und Geheimdienst stand. Nicht anders war es vorher dem salvadorianischen Erzbischof Oscar Arnulfo Romero ergangen. Er sympathisierte mit dem Aufstand und wurde, während er am Altar stand und predigte, durch das offene Hauptportal von einem Killer der Todesschwadrone erschossen.
Urteile ohne zeitgeschichtlichen Kontext sind Fehlurteile
In Argentinien hatte der mit den Waffen ausgetragene Konflikt zwischen Guerrilla und Militär ein paar Jahre früher begonnen als in El Salvador. Ob Bergoglio mit entschiedenem Widerstand gegen die Putschisten so geendet hätte wie später seine Jesuiten-Confradres in El Salvador? Man wird es nie wissen. Die erwiesenen formale Kontakte zwischen der Junta und der Jesuiten-Hierarchie sind das eine, was aber ein Mann wie Bergoglio wirklich in seinem Innern dachte und was er möglicherweise unternahm, um die schlimmsten Auswüchse der Repression zu verhindern und seine Leute zu schützen, das ist das andere. Und das weiss nur er selbst.
Die schlimmsten Fehlurteile über die Dinge der Vergangenheit sind Urteile, die nicht auf die Limitationen und Bedingungen der damaligen Gesellschaft eingehen. Das heisst: die Handlung eines Menschen im Argentinien der siebziger Jahre moralisch zu verurteilen auf Grund unserer heutigen Erkenntnisse, ist – je nach ideologischer Perspektive – undialektisch, unlogisch, unfair und dumm zugleich.
Wahrheit und die Grautöne
Die Einsicht, dass die Wahrheit vielleicht nicht schwarz-weiss und holzschnittartig ist, sondern aus vielen verschiedenen Grautönen bestehen könnte, mag für die Prediger einfacher Weltbilder unerträglich sein. Aber es wäre eine Einsicht, die uns weiter bringt als die lapidaren Urteile derjenigen, die ein halbes Jahrhundert später grundsätzlich immer besser wissen, was damals richtig und was falsch war.