Netanjahus Politik funktioniert auch ohne Netanjahu. Der als Linksliberaler angetretene Benny Gantz entpuppt sich je länger je mehr als strammer Rechtsnationalist.
Als Benny Gantz, ehemals israelischer Generalleutnant, Ende 2018 verkündete, er werde in die Politik seines Landes einsteigen, da dauerte es nicht lange, bis anfängliches Misstrauen bei vielen Israelis dem Gefühl der Erleichterung wich. Sie hofften, dass nun der Anfang vom Ende der Regentschaft Benjamin Netanjahus, des rechtslastigen Regierungschefs vom nationalistischen Likud, gekommen sei.
Gantz trat als Führer von «Blau-Weiss» (nach den Nationalfarben benannt) auf, einer angeblich linksliberalen Bewegung. Er versicherte, als Koalitionspartner Netanjahus nicht in Frage zu kommen. Die erforderliche Mehrheit zum Ministerpräsidenten jedoch verfehlte er bei wiederholten Wahlen. Schliesslich lenkte Gantz ein und schloss sich der Netanjahu-Regierung an. Dies unter dem Vorwand, die Corona-Pandemie erfordere nationale Einheit. Der Preis dafür: Die meisten seiner bisherigen Anhänger wandten sich von dem inzwischen zum Verteidigungsminister Avancierten ab.
Enttäuschte Hoffnungen
Verteidigungsminister blieb er auch nach dem schliesslichen Scheitern der Regierung Netanjahu und dem Wechsel zu einer Mitte-Rechts-Koalition unter Naftali Bennett. Und wer geglaubt oder wenigstens gehofft hatte, die neue Regierung würde einen neuen und erfolgversprechenden Kurs einschlagen, der wurde und wird immer öfter vom Gegenteil belehrt.
Hierbei spielt Benny Gantz eine nicht zu unterschätzende Rolle: Mit seiner Unterstützung – wenn nicht gar auf sein Betreiben hin – ist die Regierung dabei, im 1967 eroberten Westjordanland neue Fakten zu schaffen, um Israels Besitzanspruch auf diese Gebiete zu untermauern. Keine Rede mehr davon, dass hier nach dem Konzept der Zweistaaten-Lösung eigentlich einmal ein palästinensischer Staat entstehen soll.
Die Zweistaaten-Lösung ist tot
Israel setzt sich damit auch offen in Widerspruch zu US-Präsident Biden, der wiederholt von der Zweistaaten-Lösung sprach, die von Vorgänger Trump längst im Papierkorb entsorgt worden war. Trump war es auch gewesen, der die Verlegung der US-Botschaft von Tel-Aviv nach Jerusalem veranlasst und damit Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt hatte.
Im Teilungsbeschluss der Uno für Palästina von 1947 war vorgesehen gewesen, dass Jerusalem eine «internationale Stadt» würde. Doch nur wenige Staaten hielten sich an diese Idee, unter ihnen die USA, die ihre Israel-Botschaft zwar in Tel-Aviv hatten, in Jerusalem aber ein Generalkonsulat unterhielten – ein Teil im jüdischen Westen, der andere im arabischen Osten. Letzterer wurde mit der Verlegung der Botschaft nach Jerusalem geschlossen.
In letzter Zeit mehren sich Forderungen nach Wiedereröffnung der Ostjerusalemer Niederlassung. Israel winkt aber ab. Jerusalem sei Israels Hauptstadt; da sei kein Platz für ein Konsulat für Palästinenser. So etwas könne doch in Ramallah eingerichtet werden. Also am Regierungssitz der palästinensischen Autonomiebehörde, die im Oslo-Abkommen beschlossen worden war. Für viele galt diese Autonomieverwaltung damals als Vorstufe zu einem palästinensischen Staat neben Israel. Diese Idee wurde und wird von Israel aber kontinuierlich abgelehnt und sabotiert.
So hatte Benjamin Netanjahu wiederholt angekündigt, grössere Teile des Westjordanlandes annektieren zu wollen. Er nahm damit willentlich ernsthafte Meinungsverschiedenheiten mit dem damaligen Präsidenten Barack Obama in Kauf. Ähnlich ist das Verhalten der angeblichen Netanjahu-Gegner, die heute in Jerusalem das Sagen haben. So hat die Regierung Bennett ein Siedlungsprojekt mit über tausend Wohnungen für jüdische Siedler im Westjordanland begonnen und Washington damit offen brüskiert.
Angebliche Terrororganisationen
Der Siedlungsbau steht allerdings bereits seit Jahren als Verstoss gegen das Völkerrecht unter internationaler Kritik. Die israelische Regierung geht jetzt aber noch weiter als bisher. Und Vereidigungsminister Gantz spielt dabei eine mehr als unrühmliche Rolle: Kürzlich erklärte er sechs verschiedene palästinensische NGOs im Westjordanland zu Terrororganisationen.
Darunter befindet sich die Menschenrechts-Organisation «Al Haq», die seit den siebziger Jahren von Ramallah aus Palästinensern Rechtshilfe – unter anderem auch vor israelischen Gerichten – gibt und die für ihr Engagement bereits mit internationalen Preisen geehrt worden ist. Ebenfalls betroffen ist die Organisation zum Schutz palästinensischer Kinder, die unter dem Vorgehen des israelischen Militärs im Westjordanland zu leiden haben.
Mit dem Oslo-Abkommen war eigentlich vereinbart worden, dass das seit 1967 von Israel besetzte Gebiet in mehrere Zonen aufgeteilt und Israels Einfluss dort erheblich eingeschränkt werden sollte. Die Palästinenser beklagen schon lange, dass dies nicht geschehen ist und man deswegen unverändert unter israelischer Besatzung lebe.
Genau dies wird nun drastisch vorgeführt durch Aktionen des israelischen Militärs unter der Verantwortung von Verteidigungsminister Gantz. Sie folgen der Logik, dass man gegen die angeblichen Terrororganisationen gleich vorgehen dürfe und müsse wie gegen bewaffnete Terroristen.
Mehr noch: Israel ist seit Jahren bekannt als Lieferant hochtechnologischer Soft- und Hardware an undemokratische und autoritäre Regime weltweit – darunter auch arabische und asiatische Staaten – zum Abhören und Bespitzeln politischer Gegner und Kritiker sowie der Presse. Nun wird auch das eigene israelische Militär beliefert, um die angeblichen Terrororganisationen zu kontrollieren und einfacher gegen sie vorzugehen.
Palästinenser unter Generalverdacht
Ganz besonders absurd: Das Militär soll den Auftrag haben, möglichst viele Fotos von Bewohnern der Palästinensergebiete zu machen. Diese Bilder sollen in eine Datenbank eingespeist werden, um bei Fahndungen und Verfolgungen schneller Erfolg zu haben. Und das um den Preis, dass die gesamte palästinensische Bevölkerung unter Verdacht gestellt wird und dass ihr noch mehr und noch heftigere Massnahmen des Militärs drohen.
Schliesslich trägt auch das Verhalten Israels im Nahen und Mittleren Osten dazu bei, dass Zweifel an seinen Motiven entstehen. So fliegt die israelische Luftwaffe weiterhin regelmässig Angriffe gegen Ziele in Syrien. In erster Linie sind dies Ziele der dortigen iranischen und proiranischen Einheiten. Diese haben bisher allerdings keine vergleichbaren Aktionen gegen Israel unternommen.
Ausserdem gab es seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu einer Reihe von Staaten auf der Arabischen Halbinsel sowie in Ost- und Westafrika (Sudan und Marokko) bereits diverse Kontakte mit dem Ziel der militärischen Zusammenarbeit oder von Waffenlieferungen. Nach dem jüngsten Putsch in Khartum erklärte zwar ein Regierungsmitglied in Jerusalem, Israel habe «damit nichts zu tun». Wenig später aber wurde bekannt, dass eine israelische Delegation im Sudan versucht habe, das Militär zu einer Beendigung des Putsches zu überreden.