Es hat schon ordentlich Aufregung gegeben über den israelischen Philosophen Omri Boehm, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, derzeit an der „New School for Social Research“ in New York lehrt und auch für den israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet gearbeitet hat (was, wie wir später sehen werden, ihm durchaus nützliche Erkenntnisse bescheren kann). Boehm hat gerade ein Buch unter dem Titel „Israel – eine Utopie“ vorgelegt, in dem er mit der israelischen Politik abrechnet.
Schiefe deutsche Israel-Diskussionen
In diesem Zusammenhang wirft er deutschen Intellektuellen vor, aus Scham über den Holocaust die israelische Politik schweigend zu dulden, mithin den politischen Dialog zu verweigern. Das gehe gar nicht in Europa, speziell nicht in Deutschland, wo man, wie Omri Boehm schreibt, „an der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Israelkritik langsam verrückt“ werde.
Auch das renommierte ARD-Kulturmagazin „Titel, Thesen, Temperamente“ tappte in diese Falle, als es am 5. Juni in seinem Bericht über Boehms Buch eine Gegenposition einschmuggeln und einen Mann namens Alan Posener – der laut Wikipedia-Eintrag den europäischen Kolonialismus so schlimm nicht findet – erklären liess, die Deutschen sollten sich schön zurückhalten mit Stellungnahmen zu Israel. Also alles wie gehabt. Einigeln ist weiter gefragt, ein offener Diskurs wird verweigert.
Omri Boehms Position, wie Deutsche, Europäer aus diesem Labyrinth, in das sie sich selbstverschuldet verirrt haben, entkommen können, ist ergreifend einfach und dennoch stringent: einzig und allein die Berufung auf den universalen Humanismus könne Menschenrechte, also auch die der Minderheiten, schützen – einschliesslich der Rechte der Juden.
Unsägliche Regierungsplattform
Nicht einen Schimmer von dieser universalen Selbstverständlichkeit spiegele sich, schreibt Omri Boehm, in der gegenwärtigen israelischen Regierung wider. Die vom Zionisten Benjamin Netanjahu und dem Nahostkenner Donald Trump avisierte Annexion weiter Teile des Westjordanlandes beruhe auf einer unsäglichen Plattform. Das ideologische Bündnis von Netanjahu, Benny Gantz (derzeit Vizepremier), einem ehemaligen IDF-Generalstabs-Chef, und Jair Lapid (von 2013 bis 2014 Finanzminister), einem ehemaligen TV-Moderator, vermenge „Militarismus, und Populismus zu einem besonders giftigen Cocktail“. Dessen politische Grundsätze stünden eindeutig „rechts von einer Partei wie der AFD“.
Gantz habe sich „erfolgreicher Anschläge“ auf Hamas-Funktionäre gerühmt, Lapid gelte wegen seiner hedonistischen Tel Aviver Lebensart irrtümlich als liberal, unterstütze aber einen Leserboykott der Tageszeitung Haaretz, weil diese zu wenig zionistisch sei.
Dass Blau-Weiss (das ideologische Bündnis Gantz-Lapid) als „zentristische“ Alternative zu Israels extrem rechter, mitunter offen faschistischer Koalition gelte, sei keine Überraschung. „Wir wissen“, schreibt Omri Boehm, „dass Demokratien genau so zerfallen; nicht durch stramm rechte Führer allein, sondern durch die Kollaboration einer nationalpopulistischen, militaristischen, opportunistischen Mitte.“
Soweit die ideologisch-politische Plattform, auf der sich, laut Omri Boehm, die israelische Regierung und auch grosse Teile der israelischen Gesellschaft bewegen. Nach dieser Lesart ist Benjamin Netanjahu, der sich mit vielen Tricks an der Macht hält, kein Betriebsunfall der israelischen Geschichte, sondern Ausdruck eines immer stärker werdenden rechtspopulistischen Systems, das Israel in einen autoritären Staat verwandeln könnte, der die Unterdrückung der Palästinenser verewige.
Israelische Geschichtsblindheit
Schonungslos rechnet Omri Boehm auch mit der israelischen bzw. der zionistischen Geschichte ab. Auf der Jahresversammlung der „Amerikanischen Zionistischen Organisation“ in Atlantic City hätten die Teilnehmer 1944 den Entschluss „nach einem demokratischen jüdischen Gemeinwesen“ gefasst, welches „ganz Palästina ungeteilt und ungeschmälert umfassen“ müsse. Hannah Arendt hatte daraufhin von einem „Wendepunkt der zionistischen Geschichte“ gesprochen. Denn tatsächlich hatten sich jene „Revisionisten“ durchgesetzt, die einen Kompromiss mit den Palästinensern stets ablehnten. Diese Zionisten wurden von Hannah Arendt und Albert Einstein schlichtweg als „Faschisten“ bezeichnet.
Omri Boehm schildert dann die grausame Geschichte der Vertreibung der Palästinenser im Nahostkrieg von 1948 (die etwa der in Exeter lehrende israelische Historiker Ilan Pappe in seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ detailliert dokumentiert hat). Omri Boehm schreibt, dass sich die israelische Gesellschaft dieser Geschichte niemals gestellt habe. „Uns wurde beigebracht, dass wir unsere Eltern und Grosseltern nach ihren Erlebnissen im Holocaust fragen und uns selbst als Opfer sehen sollten – die wir zweifellos waren –, nie aber als Täter, die wir auch waren.“
Tatsächlich fasste Theodor Herzl, der Begründer des säkularen Zionismus, im Jahr 1895 in seinem Tagebuch eine Umsiedlung der Palästinenser (heute würde man den hässlichen Begriff „ethnische Säuberung“ benutzen) ins Auge. Die arme palästinensisch Bevölkerung, schrieb Herzl, „trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande derlei Arbeit verweigern“. Unbemerkt ginge solch eine Menschenrechtsverletzung indes heute nicht mehr über die Bühne – die Fernsehkameras aus aller Welt würden ein von den Vertreibern ungewünschtes Zeugnis ablegen. Aber noch 1944 konnte der spätere israelische Aussenminister Moshe Shertok sagen, dass eine Umsiedlung der „krönende Abschluss, das letzte Stadium der politischen Entwicklungen, aber keinesfalls der Ausgangspunkt“ sein könne.
Auch der Staatsgründer David Ben Gurion war, nach der Interpretation des Autors, ein Befürworter der Umsiedlung. Omri Boehm zitiert den israelischen Autor Ari Shavit, der 2013 ein viel beachtetes Buch „My Promised Land“ geschrieben hat. In einem Interview mit Benny Morris – einem der „neuen Historiker“ Israels – sagte Morris auf eine entsprechende Frage von Ari Shavit: „Ben Gurion war ein Umsiedlungsanhänger. Er verstand, dass es keinen jüdischen Staat mit einer grossen und feindlichen arabischen Minderheit in seiner Mitte geben könnte.“
Vision Republik Haifa
Doch nun, gut 72 Jahre nach der Gründung Israels, sind die Palästinenser nicht nur immer noch da, vielmehr wächst ihre Zahl unaufhörlich. Und es gilt der Satz des israelischen Schriftstellers David Grossmann, den Omri Boehm zitiert, wonach Israel für die Juden keine Heimat sein könne, solange das Land für die Palästinenser kein Heim sei.
Wo also liegt die Lösung des Konflikts? Friedensprozess? Gescheitert. Visionen? Kaum erkennbar in Israel und auch kaum unter den Palästinensern. Omri Boehm wagt einen Vorschlag, kühn, fast verwegen. Als realitätsfern und als absolut „unjüdisch“ würde das gegenwärtige politische Establishments Israels die Idee Boehms verdammen.
Boehms Vorschlag hat einen Namen, und der lautet „Republik Haifa“ – ein Bundesstaat, in dem Juden und Palästinenser die gleichen Rechte haben, jeder – gleich ob Jude oder Araber – in ganz Palästina wohnen kann und doch jede Volksgruppe ihre eigene Teilregierung hat. Der Autor zitiert über drei Buchseiten jenen – nie umgesetzten – Autonomieplan, den der damalige Premier Menachem Begin im Dezember 1977 im Zuge der Friedensverhandlungen mit Ägypten vorgelegt hat.
Punkt eins lautete: „Die Militärverwaltung in Judäa, Samaria und im Gazadistrikt wird aufgehoben.“ An diesen Plan soll die von Omri Boehm konzipierte „Republik Haifa“ anknüpfen. Und Punkt acht hiess: „Es wird gemeinsame öffentliche Gedenkveranstaltungen von Juden und Palästinensern für den Holocaust und die Nakba (die Vertreibung der Palästinenser 1948 und 1967, Anm. d. Autors) geben.“
Warum aber Haifa? Warum nicht „Republik Jerusalem“ oder „Republik Tel Aviv“?
Jerusalem verkörpere zwar die Stätte dreier Weltreligionen, schreibt Omri Boehm, sei aber auch „Götzenbild im schlechtesten Sinne des Wortes, das nationalistische und religiöse Fundamentalisten auf allen Seiten anbeten“.
Tel Aviv sei zwar eine säkulare, pulsierende Strandstadt, aber auch „ein fetischisiertes, trügerisches goldenes Kalb, ein Bild davon, wie modernes säkulares jüdisches Leben vielleicht aussähe, wenn die Juden nur unter sich bleiben könnten“.
Haifa dagegen biete, schreibt der Autor, ein Gegenmodell. Hier arbeiteten jüdische und palästinensische Ärzte in den oft besten Krankenhäusern des Landes zusammen, um die stark gemischte Bevölkerung des Nordens zu betreuen. In Haifa gäbe es mit Al-Midan ein arabisch-jüdisches Theater. Im jüdischen Teil der Stadt gebe es auf der Massada-Strasse viele arabische Cafés, mithin das „wahre Potential einer kosmopolitischen, statt einer jüdischen Stadt“, wo Araber und Juden „wie selbstverständlich die Liebe, das Leben, das Gespräch miteinander“ teilten. Schliesslich sei der Hafen Haifas jener Ort, an dem die Überlebenden des Holocaust angekommen seien – und wo wenig später, im ersten arabisch-israelischen Krieg, Tausende von Palästinensern „in Scharen zum Hafen flüchteten und die Stadt auf Schiffen verliessen“.
Realistischer als die Zweistaatenlösung
Natürlich bleibe die Gründung der Republik Haifa vorerst „ein utopischer Traum“, schreibt Omri Boehm. Dieser Traum sei aber näher an der Realität als das „illusorische Festhalten an der Zweistaatenlösung“. Daher bleibe Theodor Herzls ursprüngliches Motto zur Gründung des Staates Israel auch für eine Republik Haifa gültig. Herzl hatte gesagt: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“
Freilich, mit dieser wunderbaren politischen Vision entlässt Omri Boehm seine Leser nicht. Sein letztes Kapitel nennt er „Zorniges Postskriptum aus gegebenem Anlass“. Der Anlass ist für den Autor eindeutig. Die Regierung Netanjahu verfolge eine Politik, in der Israel ein „jüdischer Staat“ sein sollte, also kein Staat für alle seine Bürger. Es gebe Politiker, welch nicht nur ein Apartheidregime anstrebten, sondern immer noch über die Vertreibung der Palästinenser nachdächten. Damit gleiche die Politik Netanjahus und die vieler seiner Bundesgenossen der Politik der AfD in Deutschland: Auch diese wolle einen „reinen“ deutschen Nationalstaat, in dem Minderheiten keine oder nur eingeschränkte Rechte hätten. Israel stehe, sagt Omri Boehm, vor „Weimarer Verhältnissen“.
Offiziell verdamme die Regierung Netanjahu zwar die Politik der AfD. Aber Jair Netanjahu, Sohn und oft inoffizieller Sprecher seines Vaters habe in einem Tweet geschrieben: „Die EU ist ein Feind Israels ... Schengen ist tot. Hoffentlich ist es die globalisierte EU auch. Dann wird Europa wieder frei, demokratisch und christlich sein.“
Erschreckende Bilanz des Autors in seinem „zornigen Postskriptum“: während sich Israel zu weiteren Annexionen anschicke, „wäre jeder denkbaren israelischen Regierung eine AfD-geführte Bundesregierung viel lieber als eine CDU- oder SPD-geführte“. Auch sehe er den Augenblick gekommen, an dem auch AfD-Politiker in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem willkommen seien – nachdem sich dort schon Donald Trump, Viktor Orban, Jair Bolsonaro, Matteo Salvini und Rodrigo Duterte ins Gästebuch eingetragen hätten.
Schliesslich: Was man sich heute fragen müsse, sei nicht, welche linksradikale Kritik an Israel antisemitisch sei, sondern welche pro-israelische Politik noch möglich sei. Eine solche Politik müsse sich weigern, „Israels Kollaboration mit antisemitischen Verbündeten“ zu tolerieren.
Noch zorniger hätte Omri Boehms Postskriptum nicht ausfallen können.
Einsichten von Geheimdienst-Chefs
Nachbemerkung: Wie eingangs erwähnt, war Omri Boehm – laut Klappentext seines Buches – zeitweise auch Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet. Shin-Bet-Führer haben den „palästinensischen Terror“, wie sie es nennen, bekämpft – und dabei dennoch tiefe Einblicke in die palästinensische Seele und in ihre eigene israelische Gesellschaft bekommen. Die Einsichten aus ihrer Tätigkeit mögen auf den ersten Blick überraschend sein, konsequent sind sie dennoch.
In dem Dokumentarfilm „The Gatekeepers“ des israelischen Autors Dror Morch (deutscher Titel „Töte zuerst“, eine Koproduktion mit ARTE Frankreich und dem NDR aus dem Jahr 2012) äussern sich einige ehemalige Shin-Bet-Direktoren sehr skeptisch zur Arbeit ihrer Behörde und zur Situation im eigenen Land. Amri Ajalon (Shin-Bet-Chef von 1996 bis 2000) sagt in dem Film, nach der Ermordung von Jitzhak Rabin 1995 habe er sein Land mit anderen Augen gesehen. „Mir war das ganze Ausmass von Hetze und Hass gar nicht bewusst gewesen.“ Avi Dichter, Shin-Bet-Chef von 2000 bis 2005, gibt in dem Film zu Protokoll, der israelische Ansatz, palästinensischen gewaltsamen Widerstand mit Ermordung der Anführer zu beantworten, habe nichts als weitere Aufstände provoziert. Und Karmi Gillon, Shin-Bet-Direktor von 1994 bis 1996, sagt in dem Film klipp und klar: „Israel kann sich den Luxus nicht leisten, nicht mit dem Feind zu reden.“
Omri Boehm hat sicher auch aus diesen Einsichten geschöpft. Wohl auch deshalb nennt er sein Buch „Israel – eine Utopie“. Hinter diesen Titel setzt er kein Fragezeichen. Folgt man dem Autor, dann heisst das, dass Israel in seiner jetzigen Form auf Dauer keinen Bestand haben kann.
Aber die von Boehm avisierte „Republik Haifa“? Im Kleinen besteht die schon, zumindest, wenn man dem Porträt der Stadt folgt, wie es Omri Boehm schildert. Nur: Auch in Haifa regiert eine jüdische Mehrheit über eine palästinensische Minderheit. Da an vielen Orten der Welt ethnisch-nationalistische Ideologien virulent sind und weil Benjamin Netanjahu weitere Annexionen palästinensischen Landes plant, bleibt die „Republik Haifa“ eine inspirierende, aufmunternde, aber leider derzeit auch realitätsferne Vision.
Omri Boehm: Israel – eine Utopie, aus dem Englischen von Michael Adrian, Verlag Propyläen, Berlin 2020