Und dann gibt es Bücher, die man beliebig aufschlägt, hier ein paar Seiten, dort ein paar Absätze liest, dann in den Bücherschrank zurückstellt, wo sie ein paar Tage oder Wochen oder Jahre stehen bleiben, bis eines Tages der Blick darauf fällt und man, erfreut, wieder ein wenig darin schmökert.
Ein solches Buch sind Goethes Maximen und Reflexionen. Es sind kurze Sätze, Einfälle, nicht sorgfältig ausgefeilt wie Aphorismen es sind oder sein sollten, sondern im Augenblick der Eingebung flüchtig niedergeschrieben auf was immer an Papier zur Hand war: abgerissene Schnitzel, Theaterkarten, Rechnungen, dann in eine Schachtel gelegt, die mit der Aufschrift Späne gekennzeichnet war, und sobald die Schachtel voll war einem Schreiber übergeben, der die Notizen sorgfältig auf Papierbögen übertrug. 1413 Stück sind es insgesamt, Überlegungen zum Alltag und zum Leben, überraschende Beobachtungen, oder Ratschläge, Bewertungen, Lebensweisheiten, Zitate aus Fremdem, viele davon wahrhafte Juwelen, andere kleine Nichtigkeiten, manchmal mit Augenzwinkern, manchmal aus Verärgerung notiert. Im Folgenden zitiere ich nach der seit 1907 allgemein gebräuchlichen Nummerierung von Max Hecker.
Da ist zum Beispiel die Nummer 851: „Sage nicht, dass du geben willst, sondern gib!“ Manch Einer sollte sich das hinter die Ohren schreiben. Nachdenklich stimmen dürfte die Nummer 681: „Man wird nie betrogen, man betrügt sich selbst.“ Auch die Nummer 97 regt zum Nachdenken an: „Jeder hat etwas in seiner Natur, das, wenn er es öffentlich ausspräche, Missfallen erregen müsste.“ Beherzigen mag man sich den folgenden Rat: „Unsere Eigenschaften müssen wir kultivieren, nicht unsere Eigenheiten“ (838).
Denken Sie an Folgendes, verehrte Leser und Leserinnen! „Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden“ (918). Humor sei eines „der Elemente des Genies“, lautet die Nummer 65 und kennzeichnet, so meine ich, den Unterschied zwischen Max Frisch und Dürrenmatt. Noch wichtiger als der Humor ist für Goethe das Kriterium: „Das Erste und Letzte, was vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe“ (382). Sind Sie, meine Herren, einverstanden mit der Notiz 843: „Der liebt nicht, der die Fehler der Geliebten nicht für Tugenden hält“? Immer wieder notierte sich Goethe Gedanken über die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der Liebe. Wie manche Ehe bliebe erhalten, wenn die Gatten die Nummer 936 eingerahmt über Tisch und Bett hängen würden: „Weiß denn der Sperling, wie dem Storch zu Mute sei?“
Welcher Philosoph oder Schriftsteller hätte nicht schon seufzend gesagt: „Alles Gescheite ist schon gedacht worden“ (441). So zum Beispiel der britische Philosoph Alfred North Whitehead, dessen Auffassung es war, dass die abendländische Philosophie nichts als Fußnoten zu Platon sei. Und lange vor Whitehead und Goethe hatte schon der französische Schriftsteller Jean de la Bruyère festgehalten: „Alles ist gesagt, und man kommt zu spät seit mehr als siebentausend Jahren“. Aber im Gegensatz zu diesem französischen Kollegen bemitleidete sich Goethe nicht als zu spät Gekommener, sondern fügte – wie das seinem Wesen entsprach – ein weiterführendes neues Gescheites hinzu: „Man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.“
Manchem Kathederphilosophen ist die Nummer 1207 zu empfehlen: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“ Die bedenkenswerte Nummer 967 zeugt vermutlich von den Erfahrungen Goethes als Minister für Finanzen und Bergbau im Herzogtum Sachsen-Weimar: „Herrschen lernt sich leicht, regieren schwer.“ Als Wahlspruch der Freisinnigen Partei könnte die Nummer 353 dienen: „Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.“ Geradezu prophetisch wirkt angesichts der nachfolgenden Geschichte Deutschlands die Notiz 1031: „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke.“
Geschrieben aus der Warte hohen Alters (wie übrigens die meisten der Maximen und Reflexionen): „Man darf nur alt werden, um milder zu sein; ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte“ (240). Ebenso, was mit der Zeit jeder Forschende und Denkende erfährt: „Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß; mit dem Wissen wächst der Zweifel“ (281) Als Ergänzung könnte die Nummer 897 dienen: „Wie viele Jahre muss man nicht tun, um nur einigermaßen zu wissen, was und wie es zu tun sei!“ Eltern und Lehrer, die den Kindern ständig die angeblich gute alte Zeit als Beispiel vorhalten, hatte er wahrscheinlich im Sinn, als er notierte: „Die Menschen halten sich mit ihren Neigungen ans Lebendige. Die Jugend bildet sich wieder an der Jugend“ (290).
Dass Goethe eine Unmenge naturwissenschaftlicher Schriften, aber kaum eine philosophischen Inhalts hinterließ, überrascht nicht, wenn man auf die von einem andern (mir unauffindbaren) Autoren übernommene Notiz 1200 stößt: „Genau besehen, ist alle Philosophie nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache“ (hochtrabendes leeres Geschwätz). Es ist dies nicht der einzige Gedanke in den Maximen, den Goethe von andern Autoren übernommen hat. Einige dieser „Aneignungen“ sind mit Anführungszeichen als Zitate gekennzeichnet, andere nicht. Gegen den Vorwurf des Plagiats versuchte er sich in der kleinen Schrift: „Meteore des literarischen Himmels“ zu schützen. Darin schrieb er, der Gelehrte müsse „seine Vorgänger benutzen, ohne jedes Mal ängstlich anzudeuten, woher es ihm gekommen“ sei; niemals werde er aber „versäumen, seine Dankbarkeit gelegentlich auszudrücken.“
Aus Nummer 72 spricht der Buchrezensent: „Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, dass der Verfasser etwas gewusst hat.“ In der Tat: die Bibliotheken und Buchläden sind voll davon. Und aus 983 spricht der Schriftsteller und Leser: „Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von seinem anfänglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher ins Schlechtere als ins Bessere“. Das sollte man bei der Lektüre von früheren Schriftstellern und Dichtern stets im Auge behalten; der Bedeutungswandel der Worte verursacht manches Missverständnis.
Großes Gewicht legte Goethe auf die Unterscheidung von „Toleranz“ und „ gelten lassen“. Allerdings fand ich in den Maximen nur zum Erstgenannten eine Notiz: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen.
Dulden heißt beleidigen“ (875). Was er im Gegensatz dazu unter „gelten lassen“ verstand, wird ersichtlich in dem Brief, den er am 7. November 1816 dem mit ihm befreundeten Komponisten Carl Friedrich Zelter schrieb (in Ergänzung der letzten, nur 6 Worte umfassenden Predigt des Apostels Johannes): „Kindlein liebt Euch, und wenn das nicht gehen will: lasst wenigstens einander gelten.“ Ja!