Das nahöstliche Waffenstillstandsabkommen hat einen Geburtsfehler: Es wurde zwischen der Regierung Israels und jener des Libanon abgeschlossen – im Originaltext sucht man vergeblich nach der Erwähnung der Hisbollah, dem Kriegsgegner. Die Vertragspartner scheinen darauf zu vertrauen, dass die schiitische Miliz mitspielt.
Aber es dauerte rund 30 Stunden nach der offiziellen Bekanntgabe der Einigung, bis sich die Hisbollah zu Wort meldete. Endlich, in der Nacht auf Mittwoch, war es so weit: Die Hisbollah erklärte, man sei «nach dem Sieg über Israel bereit», die Kampfhandlungen einzustellen, aber «die Hand bleibt am Abzug, um die Souveränität des Libanon zu verteidigen», lautete die Stellungnahme. Verbreitet oder zumindest abgesegnet hat sie wahrscheinlich Naim Kassim, der aktuelle Chef der Hisbollah (Nachfolger von Hassan Nasrallah und Hashim Safi al-Din, beide durch die israelische Luftwaffe getötet).
Massiver Druck
Tatsache ist: Einen Sieg hat die Hisbollah gegen Israel nicht errungen, aber die Miliz hat auch keine totale Niederlage einstecken müssen. Sie feuerte im Verlauf des Kriegsjahrs (mit steigender Kadenz) 12’400 Raketen oder Drohnen auf Israel ab, fügte den israelischen Streitkräften auch im Bodenkrieg Verluste zu und beschädigte hunderte Häuser besonders im nördlichen Teil Israels.
Jetzt wurde der inner-libanesische Druck doch zu massiv – kein Wunder. Fast 4’000 Menschen kamen ums Leben, mindestens 10’000 wurden verletzt und Hunderttausende verloren ihr Obdach. Die Opfer waren nicht nur Hisbollah-Kämpfer, sondern auch Zivilistinnen und Zivilisten aller libanesischen Gemeinschaften (Schiiten, Sunniten, Christen), das heisst, dass der Konflikt die ganze Gesellschaft im Libanon schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Und immer lauter wurde die inner-libanesische Anklage an die Hisbollah: Die Miliz drohe, das Land in den Abgrund zu ziehen.
Zweifelhafte Garantie
Was jetzt? Das Abkommen beinhaltet, dass die Hisbollah-Milizen sich mit ihrer militärischen Infrastruktur innerhalb von 60 Tagen hinter den Litani-Fluss, also rund 30 Kilometer von der Grenze zu Israel entfernt, zurückziehen müssen. Gleichzeitig sollen Einheiten der libanesischen Armee in dieser hügeligen, schwer überschaubaren Region Positionen einnehmen, und, gemeinsam mit der Uno-Truppe Unifil, sicherstellen, dass die Hisbollah sich hier nicht neu formiert. Auch die israelischen Truppen sollen sich zurückziehen.
Ist das nicht alles fast zu schön, um wahr zu sein? Das Abkommen ähnelt weitgehend dem Inhalt der Uno-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006. Schon damals wurde diese Entflechtung der bewaffneten Kräfte befohlen. Aber die libanesische Armee hat sich, während nunmehr 18 Jahren, vor der Verantwortung in diesem Landesteil gedrückt, ja, mehr noch, sie zog sich zurück, und ihre Kommandanten und Soldaten schlossen während des jetzigen Kriegsgeschehens förmlich die Augen. Als ob sie all diese Zerstörungen nichts angingen.
Und nun soll plötzlich alles anders werden? Da gibt es Zweifel – sie zerstreuen soll eine im Abkommen erwähnte «Garantie» von Seiten der beiden Vermittler, den USA und Frankreich. Ein US-amerikanischer Kommandant soll, in Zusammenarbeit mit der Uno-Truppe Unifil, die Stationierung der etwa 10’000 libanesischen Soldaten überwachen. Ob das wirklich genügt, um die libanesischen Soldaten zu motivieren, in einem bedrohlichen Umfeld aktiv zu werden?
40 Milliarden Dollar Kriegskosten
Die Hisbollah drohte, wie erwähnt, «die Hand ständig am Abzug zu halten». Israel anderseits drohte ebenfalls: Sollte es weitere Hisbollah-Angriffe geben, werde man mit Entschlossenheit und Härte reagieren, äusserte Premier Netanjahu. Er ergänzte sein Einverständnis zur Waffenruhe (mit dieser Formulierung verpflichtet man sich lediglich auf eine zeitlich begrenzte Einstellung der Kampfhandlungen, es ist kein dauerhafter Waffenstillstand und schon gar kein Friede) mit dem an die eigene Bevölkerung gerichteten Hinweis, die Armee benötige eine Pause, auch weil es an Material (also an Bomben und Munition) fehle. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Israel durch seinen Mehrfrontenkrieg – gegen die Hamas im Gazastreifen, gegen die Hisbollah in Libanon und gegen die iranische Drohkulisse – nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich an seine Grenzen gelangt ist.
Die Kriegskosten werden aktuell auf etwa 40 Milliarden Dollar geschätzt. Jedes Geschoss des Raketen-Abwehr-Systems «Tamir» kostet ungefähr 40’000 Dollar. Und wenn Israel jeweils das ganze Iron Dome-System oder das Abwehrsystem «Arrow 2» aufzieht (so geschehen bei zwei iranischen Attacken mit hunderten Geschossen, dann kostet das jeweils bis zu einer Milliarde. Zur wirtschaftlichen Belastung hinzu kommen die Ausfälle von Arbeitskräften: Zwischenzeitlich bot Israel bis zu 300’000 Reservisten auf, und die fehlten dann für kürzere oder längere Zeit im Arbeitsprozess. Also kann man wohl die Gesamtkosten des Kriegs auf total etwa 80 Milliarden Dollar schätzen.
Die Waffenruhe zwischen Israel und Libanon ist der Einsicht geschuldet, dass weder die eine noch die andere Seite ihre Maximalziele erreichen kann. Für den Gaza-Krieg gilt das vorerst noch nicht: Die israelischen Truppen werden weiterhin von der hohen politischen Warte aus, also von Premier Netanjahu, angewiesen, das Unmögliche möglich zu machen, das heisst, die Hamas total zu zerstören und gleichzeitig die noch lebenden Geiseln befreien.
Wie lange wird es noch dauern, bis sich auch da ein Minimum von Einsicht durchsetzt – auf der Seite Israels und jener der Hamas?