… für den ehrenwerten Ständerat des schweizerischen Parlaments: Was seine Mitglieder in einer Mehrheitsabstimmung (31 pro, 11 contra, 2 Enthaltungen) vom 5. Juni entschieden haben, verursacht bei besonnenen Bürgern Kopfschütteln, ja Konsternation.
Gemäss diesem Beschluss ist es die offizielle Meinung des Ständerats, die Schweiz habe keinen Anlass, dem jüngsten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Folge zu leisten. Mit besagtem Urteil hat das EGMR dem Verein Klimaseniorinnen in ihrer Klage Recht gegeben, die Schweiz gewähre nicht genügend Schutz gegen den Klimawandel und für Gesundheit und Leben der Menschen.
Es ist sehr bedenklich, wenn der Ständerat das Strassburger Gericht des «gerichtlichen Aktivismus» bezichtigt und ihm vorwirft, sich anzumassen, «den Gesetzgeber zu übersteuern», ja sich gar «zum moralischen Gesetzgeber aufzuspielen».
Entgegen der Erklärung des Ständerates
- missachtet der EGMR nicht die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative, sondern unterscheidet klar zwischen dem Auftrag des nationalen Gesetzgebers und der Prüfungspflicht des EGMR;
- mischt sich der EGMR nicht in die demokratischen Entscheidungsprozesse ein, sondern hält diese gerade für sehr wichtig für das Vorankommen in Menschenrechten und Klimaschutz.
Die Schweiz kann und soll mehr leisten in der Klimapolitik, es bedarf hierzu einer seriösen und vertieften Kenntnisnahme des EGMR-Urteils. Insgesamt fragt sich, ob das vorschnelle Abhaken des EGMR-Urteils nicht auf einer veralteten Menschenrechtskonzeption beruht. Früher wurden Grundrechte als blosse Abwehrmittel gegen staatliche Übergriffe verstanden. Doch die Zeiten haben sich verändert. Grund- und Menschenrechte werden heute ebenso stark als Obliegenheiten für positive, aktive Leistungen durch staatliche und zwischenstaatliche Instanzen verstanden.
Kurzum, die ablehnende Haltung der Ständerats-Erklärung gegenüber dem EGMR-Urteil ist völlig unakzeptabel und birgt viel Schadenspotential für unser Land. Sie kann nur damit erklärt werden, dass sie in der Küche des Populismus ausgekocht wurde. Es ist sehr zu hoffen, dass diese Suppe nicht überschwappen werde in die andere Parlamentskammer, den Nationalrat.