Der charismatische indische Anwalt, Asket, Weise und friedliche Revolutionär Mohandas Karamchand Gandhi (1869–1948) ist auch Politik-Uninteressierten spätestens seit Richard Attenboroughs Oscar-gekröntem Gandhi-Film von 1982 ein Begriff. Aber bereits zwei Jahre früher war ein Werk über den allgemein mit seinem Ehrennamen Mahatma (Grosse Seele) angesprochenen Gandhi unter dem Titel „Satyagraha“ auf die Opernbühnen der westlichen Welt gekommen. Der Begriff „Satyagraha“ wurde von Gandhi während seiner Jahre als junger Anwalt in Südafrika (1893–1914) entwickelt und bedeutet „Mut zur Wahrheit“ oder auch „Kraft der Wahrheit“.
Der Begriff wurde zum Leitmotiv für den von Gandhi entwickelten gewaltfreien Widerstand in seinem Aufruf zum zivilen Ungehorsam der unterdrückten indischen Minderheit in Südafrika gegen das kolonialistische Regime Grossbritanniens, den er später in seiner Heimat Indien fortsetzte. Sein wohl bekanntester und erfolgreichster Nachfolger sollte später Martin Luther King in den USA werden.
Der aus Litauen stammende, 1937 im amerikanischen Baltimore geborene und aufgewachsene Komponist Philip Glass wurde u. a. in Paris von zwei Komponistenpersönlichkeiten geprägt, die gegensätzlicher nicht hätten sein können: von der gestrengen, brillanten Französin Nadja Boulanger und dem indischen Musiker Ravi Shankar. „Sie unterrichtete durch Terror, er unterrichtete durch Liebe. Die Kollision ihrer beiden Intellekte geschah in meinem Inneren“, fasste Glass später zusammen.
Eintauchen und Wegtauchen
Wenn man sich in den Sog seiner Musik ziehen lässt, die man heute gemeinhin als minimal music bezeichnet, erlebt man auch jetzt noch diese beiden Seiten im musikalischen Kosmos von Philip Glass. Repetitive Tonfolgen, meist streng sequenziert, die beim ersten Hören zwar einfach wirken, deren Orchestrierung und langsame Veränderung jedoch von betörender Schönheit ist. Bei der Orchestrierung von „Satyagraha“ verzichtet Glass zum Beispiel ganz auf das Blech, gibt dafür aber Kontrabässen und Fagotten sehr viel mehr Klangraum als sonst in einem klassischen Orchester üblich. Die minimalen Verschiebungen und dynamischen Entwicklungen von Dreiklang-Zerlegungen und Skalen sind in ihrem meist unaufgeregten Rhythmus in ihrer Wirkung auf Zeit angesetzt und versetzen den Zuhörer in tranceartige Zustände. Die Gesangslinien der wenigen Solopartien sind – wie auch der ungemein wichtige und rhythmisch schwierige Chorpart – meist „tenuto“, also vom Tenorpart ausgehend in der Mittellage angesiedelt. Ausnahmen bilden sehr hohe Sopranpartien, sowohl solistisch als auch vom Chor gesungen, welche unter anderem Unerträglichkeit und Verzweiflung signalisieren, jedoch immer im repetitiven, beharrenden Modus verbleiben.
Kontemplation versus Aktion?
Wie aber kann, mit einem derartigen musikalischen Arsenal ausgerüstet, ein grosses Bühnenwerk entstehen, dessen Haupt-Protagonist zwar Asket, aber auch ein Handelnder ist, ein nicht nur geistiger Führer, sondern einer, der x-mal ins Gefängnis geworfen, der misshandelt und angefeindet worden ist? Wie geht denn das zusammen? Wird das nicht langweilig? Das fragt sich wohl leicht zweifelnd manche und mancher im Publikum, bevor man sich von diesem Kosmos einholen, ja, einfangen lässt.
Von Langeweile keine Spur. Zwischendurch Ruhe, ja, dies auch. Aber Philip Glass unterläuft alle Erwartungshaltungen eines Theaterpublikums, indem er – zusammen mit seiner Co-Librettistin Constance DeJong – praktisch keine direkte Kommunikation zwischen den handelnden Personen zulässt. Hier wird – im besten Sinne – deklamiert. Weisheiten aus der uralten hinduistischen Schrift „Bhagawad Gita“ (Der Gesang Gottes) liegen dem Libretto zugrunde, und die heimliche Hauptrolle – neben der überaus grossen und anspruchsvollen Partie des Mahatma Ghandi selbst – ist der Gott Krishna. Er wird angerufen, und was er empfiehlt, wird schliesslich umgesetzt: Wage dein Leben, wage die Taten, die du vollbringen musst. Das sollte auch Gandhis Leitsatz werden.
Tänzer als Mittelpunkt einer Operninszenierung
Diese riskante Konstellation eines Bühnenwerks verlangt nach inszenatorischen Einfällen. Und dies ist in Basel geradezu kongenial geglückt, indem man den Künstler, Tänzer und Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui als Regisseur engagierte, der seine von ihm gegründete Tänzergruppe „Eastman“ mitbrachte. Basel blickt ja auf eine grosse und ruhmreiche Ballettgeschichte zurück. Und doch ist es nicht vermessen zu behaupten, dass derartig hochartifizielle und artistische Tanz-Höchstleistungen auf dieser Bühne noch kaum geboten wurden. Nicht umsonst wurden die elf Tänzerinnen und Tänzer, welche die eigentliche interpretatorische Arbeit der Oper bis zur Selbstaufgabe leisten, am Schluss am lautesten und geradezu frenetisch bejubelt.
Neben ihnen besticht, in einer geglückten Symbiose von geistigem und künstlerischem Gleichmut, sowohl darstellerisch als auch sängerisch nie die Balance verlierend, der Schweizer Tenor Rolf Romei als Ghandi. Er wie alle anderen Sängerinnen und Sänger hatten auf Sanskrit zu singen, eine zusätzliche Schwierigkeit. Die Texte werden auf Deutsch und auf Englisch untertitelt. Auch alle weiteren Soli, darunter die wichtige Rolle der Miss Schlesen, klangen und agierten überzeugend.
Die Rolle der Frauen
Zu Miss Schlesen, eigentlich Sonja Schlesin, der Sekretärin Ghandis, wäre zum guten Schluss noch anzumerken, dass sie – während Ghandi im Gefängnis sass – die berühmte Rede geschrieben hat, die Ghandi 1908 gegen die Zwangs-Registrierung der Inder in Südafrika unter dem so genannten „Black Act“ halten sollte. Die Rede ist in die Geschichte eingegangen, doch die Frauen zählten damals weder in Indien noch bei Ghandi wirklich; sie durften respektive mussten lediglich und unverzichtbar im Schatten der Männer mitwirken. Philip Glass und mit ihm Regisseur Cherkaoui haben den wichtigen Frauen von Ghandis Südafrika-Zeit jedenfalls ein Denkmal gesetzt.
Sicher durch die Fährnisse der Partitur
Zusammen gehalten wird der riesige Bühnenapparat vom amerikanisch-deutschen Dirigenten Jonathan Stockhammer, der als Fachmann für zeitgenössische Musik und insbesondere minimal music gilt. Bestechend, wie ruhig und mit welch klarer Zeichengebung er das grossartig spielende Sinfonieorchester Basel und die Bühne durch alle Fährnisse der Partitur leitete. Der dreistündige, bemerkenswerte Opernabend ist eine Ko-Produktion mit der Komischen Oper Berlin und der Vlaamse Opera Antwerpen.
Nächste Vorstellungen: 30. April, 2., 4., 6. Mai